Subjektive Resistenz gegenüber digitalen Innovationen

Interdisziplinäres Perspektivengespräch am Beispiel des personalisierten Diabetes-Managements

Nach vielen Jahren der Stagnation nimmt die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland allmählich Fahrt auf. Digitale Gesundheitsanwendungen sind als Apps verordnungsfähig und die elektronische Patientenakte sowie das elektronische Rezept endlich Wirklichkeit geworden. Das Digital-Gesetz und das Gesundheitsdatennutzungsgesetz geben dieser Entwicklung Rückenwind. Dennoch schreitet die Digitalisierung des Gesundheitswesens relativ langsam voran. Ein Hauptgrund dafür sei „die mangelnde Offenheit und Akzeptanz der Konsumenten gegenüber digitalen Innovationen im Gesundheitsbereich“, konstatiert Prof. Sven Heidenreich und macht eine „konsumentenseitige Innovationsresistenz“ aus. Woher diese Resistenz kommt und wie sie sich überwinden ließe, das erörterte der Betriebswirt von der Universität des Saarlandes zusammen mit dem Psychologen Prof. Marc Hassenzahl von der Universität Siegen und dem Ingenieur Dr. Martin Vitt von Sanofi-Aventis Deutschland beim jüngsten Perspektivengespräch des House of Pharma and Healthcare am Beispiel eines personalisierten Diabetes-Managements.

Die Technologie steht bereit

Die technologischen Voraussetzungen für solch eine digitale Führung von Diabetes-Patienten sind längst vorhanden. Im einfachsten Fall geschieht dies über eine Rückkopplungsschleife: Der Arzt schickt seinem Patienten den Dosisplan für die tägliche Injektion von Basalinsulin auf dessen Smartphone, der Patient trägt dort regelmäßig seine Nüchternblutzuckerwerte ein sowie die Insulindosis, die er sich verabreicht. Abhängig von den eingegebenen Daten verändert sich automatisch die empfohlene Dosis, was dem Patienten dabei hilft, stets innerhalb seines Blutzuckerzielbereiches zu bleiben. In höherwertigen Apps werden solche Rückkopplungen mit Features angereichert, die Variablen des Alltagslebens des Patienten erfassen. Noch weiter gehen automatisierte Lösungen, bei denen ein elektronisches Steuergerät aus der Hand- oder Hosentasche heraus dafür sorgt, dass ein diskret an Bauch, Bein oder Arm angebrachter Pod den Blutzucker der Patienten in kurzen Abständen misst, um ihnen ihr Basalinsulin ohne ihr Zutun bedarfsgerecht zu verabreichen.

Barrieren begründen bewusste Ablehnung des Neuen

Wenn viele Diabetikerinnen und Diabetiker von solchen Lösungen noch keinen Gebrauch machten, dann liege das daran, dass zwischen ihnen und den neuen Produkten Barrieren stünden, die sie zu einer bewussten Ablehnung der Innovation veranlassten, erläuterte Heidenreich. Dabei gelte es, zwischen funktionalen und psychologischen Barrieren zu unterscheiden. „Funktionale Barrieren treten auf, wenn Verbraucher Produktmerkmale als dysfunktional oder unzureichend für die persönlichen Bedürfnisse und Nutzungserwartungen wahrnehmen.“ Sie erklärten sich einerseits daraus, dass die Betroffenen den Vorteil der Innovation gegenüber dem Hergebrachten nicht wahrnähmen, indem sie etwa die persönliche Konsultation eines Hautarztes der Nutzung einer Hautscreening-App vorzögen. Andererseits könnten funktionale Barrieren auch daraus resultieren, dass ein digitales Angebot zu komplex angelegt und zu kompliziert zu bedienen sei. Psychologische Barrieren wiederum bauten sich bei Verbrauchern dann auf, wenn eine Innovation im Konflikt mit den eigenen Überzeugungen stünde. „Besonders ältere Menschen brechen ungern mit ihren medizinischen Gewohnheiten.“ Darüber hinaus stellten sich bei digitalen Lösungen die Furcht vor Datenmissbrauch sowie die Furcht vor einem plötzlichen Funktionsausfall der unbefangenen Nutzung des Neuen in den Weg. Zielgruppenspezifische, differenziert aufgefächerte Marketingmaßnahmen seien aber durchaus in der Lage, sowohl funktionale als auch psychologische Barrieren zu überwinden.

Chronisch Kranke wollen Autonomie und Kompetenz

Große Bedeutung für die Akzeptanz digitaler Innovationen kommt dem subjektiven Wohlbefinden bei, das Patienten durch deren Nutzung erfahren oder gar steigern können. Gerade für Menschen mit chronischen Krankheiten sei es wichtig, dass eine App ihnen dabei helfe, grundlegende psychologische Bedürfnisse wie Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit zu befriedigen, sagte Marc Hassenzahl. Chronisch kranke Menschen wollen sich in die Lage versetzt fühlen, gesundheitsorientierte Entscheidungen selbst zu treffen. Sie wollen nicht von ihrer Krankheit kontrolliert werden, sondern die Vorgänge in ihrem Körper so verstehen und nachvollziehen, dass sie lernen, souverän mit ihrer Krankheit zu leben. Diese Erkenntnisse einer Meta-Review habe er in ausführlichen Interviews mit Diabetikern bestätigt gefunden. Zuerst solle das Alltagsleben gelingen, die Zuckerkrankheit solle sich einfügen und erst an zweiter Stelle kommen. „Die Patienten beanspruchen die Freiheit, auch einmal von den Empfehlungen ihres Arztes abzuweichen und strikte Zeitpläne für das Messen ihrer Zuckerwerte und die Injektion von Insulin in bestimmten sozialen Situationen zu ignorieren.“ Weiterhin wünschten sie sich die Kompetenz, ihre Blutzuckerwerte erfolgreich voraussagen und steuern zu können. „Dem müssen wir beim Design digitaler Medizingeräte Rechnung tragen, damit sie über ihre Funktionalität hinaus Wohlbefinden erzeugen können.“

Nicht primär für Ärzte, sondern für Patienten programmieren

Jeder vierte Typ-II-Diabetiker werde mit Insulin behandelt, sagte Martin Vitt. Bei seinem Arzt verbringe er in der Regel drei Stunden pro Jahr, dessen restliche 8757 Stunden er mit dem Selbstmanagement seiner Krankheit beschäftigt sei. Damit verdeutlichte der Pharmamanager die Bedeutung eines nutzerfreundlichen digitalisierten Diabetesmanagements – und beschrieb die Hürden, die es auf dem Weg dorthin zu nehmen gelte. „Es ist ein Riesenaufwand, eine solche Technologie auf die Straße zu bringen“, sagte er. „IT-Branche und Pharmabranche müssen dafür das gleiche Verständnis haben, das Beste für den Patienten zu entwickeln.“ Wie schwierig das sei, wisse er aus eigener Erfahrung. Die Erwartungen der Patienten würden von ihrem täglichen Umgang mit anderen digitalen Konsumgütern („connected consumer goods“) bestimmt. Erfülle eine Diabetes-App diese hohen Ansprüche nicht, sei sie am Markt zum Scheitern verurteilt. Auf der anderen Seite stünden die Ärzte vor dem Dilemma, dass sie in ihrer täglichen Praxis vier bis fünf verschiedene Apps verwalten müssten. Dementsprechend sei derzeit ein großes Rennen der Anbieter um die bevorzugte Gunst der Ärzteschaft im Gange. Bemerkenswert fand Vitt die Tatsache, dass alle aktuellen Diabetes-Apps sich an den Health Care Professionals als Hauptzielgruppe orientierten. Ein Münchener Start-Up habe diese Perspektive nun umgedreht und erstmals eine KI-unterstützte Diabetes-App aus Patientensicht programmiert. Sie analysiert Gesundheits- und Lebensstildaten und leitet daraus Informationen und Ratschläge ab, die den Patienten erlaubt, ihren Blutzuckerspiegel selbstbestimmt und flexibel in einem gesunden Korridor zu halten.

Bedarf Compliance der Automatisierung?

"Ob sie einen Generationsunterschied in der ablehnenden Haltung digitalen Lösungen gegenüber sehen?", wurden die Referenten in der Diskussion gefragt. Mit zunehmendem Alter werde die Wahrnehmung zwar negativer, bestätigte Sven Heidenreich, ein Datenschutz- und Ausfallrisiko digitaler Diabetesmanager fürchteten aber auch jüngere Konsumenten. Auch die Resilienz sei bei jüngeren Patienten geringer, ergänzte Martin Vitt. „Wenn etwas nicht funktioniert, dann geben sie schnell auf und lassen es bleiben, während Ältere so lange probieren, bis es funktioniert.“ Wenn es das Ziel sei, die Compliance chronisch kranker Patienten zu erhöhen, fragte ein Arzt aus dem Publikum, wie könne man dann die Kontrolle des Lebensstils einbeziehen und verhindern, dass ein Diabetiker zwei Schnäpse am Tag trinke? Dieses Problem müsse man von beiden Seiten betrachten, entgegnete Marc Hassenzahl. „Der Arzt muss auch verstehen, dass der Patient das Recht hat, zwei Schnäpse zu trinken.“ Die Frage sei vielleicht eher, wie man den Schaden begrenzen und den Patienten dazu bringen könne, nur einen Schnaps zu trinken. Das könne über eine app-vermittelte kontinuierliche Kommunikation gelingen. „Man darf nicht erwarten, dass der Patient einen strikten ärztlichen Rat zuhause allein umsetzen kann.“ Wenn die zwei Schnäpse wehtun würden, dann tränke der Patient sie wahrscheinlich nicht, sagte ein Apotheker aus dem Publikum. Denn ein chronischer Schmerzpatient sei meist compliant und würde seine Medikamente nehmen. „Wir stehen vor dem Problem, Patienten mit chronischen Erkrankungen, die nicht wehtun, dazu zu motivieren, compliant zu sein“, sagte er. „Dazu kann eine App hilfreich sein, aber letztendlich wird das vermutlich nur mit einer vollautomatisierten Lösung zu erreichen sein, zu der der Patient nichts beitragen muss.“

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