„Wir können diese Pandemie stoppen“

Virologiedirektorin und Gesundheitsamtschef plädieren für Besonnenheit und Zuversicht beim Umgang mit SARS-CoV-2

„Covid-19 ist eine ernst zu nehmende Erkrankung. Es ist eine Pandemie. Das heißt, dass die Krankheit die ganze Erde überziehen wird. Es heißt aber nicht unbedingt, dass sie schwer sein wird. Zum größten Teil wird sie voraussichtlich sehr milde verlaufen. Bei einer neuen Grippepandemie, wie wir sie zuletzt 2009 erlebt haben, würde das ganz anders aussehen.“ Mit diesen Worten rückte der Leiter des Gesundheitsamtes der Stadt Frankfurt, Professor René Gottschalk, die Maßstäbe zurecht, die in der öffentlichen Aufregung um die Ausbreitung des neuen Coronavirus SARS-CoV-2 zunehmend aus dem Lot zu geraten drohen. Besonnenes Handeln sei das Gebot der Stunde, mahnten Gottschalk und die Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie der Universitätsklinik Frankfurt, Professorin Sandra Ciesek, vor rund 250 Zuhörern am 2. März bei einem Perspektivengespräch des House of Pharma & Healthcare. Beide sind seit Wochen aktiv in die Erforschung und Bekämpfung von SARS-CoV-2 eingebunden, dessen erstes Auftreten in der Elf-Millionen-Stadt Wuhan China am 31. Dezember 2019 mit einiger Verspätung an die Weltgesundheitsorganisation gemeldet hatte.

Infektionskurve verläuft linear

„Zu keinem Zeitpunkt hat es einen exponentiellen Anstieg der Infektionszahlen gegeben“, betonte Gottschalk mit Verweis auf eine Website der amerikanischen Johns Hopkins Universität, auf der sich die weltweite Verbreitung des Virus nahezu in Echtzeit verfolgen lässt. Dort waren am Tag der Veranstaltung rund 90.000 Infizierte und mehr als 3.000 Todesfälle verzeichnet – aber eben auch mehr als 45.000 ausgeheilte Patienten. Anders als diese Zahlen suggerieren, liege die Sterblichkeitsrate einer SARS-CoV-2-Infektion aber weit unter drei Prozent. Denn die meisten Menschen, die eine Infektion überstünden, ohne nennenswerte Symptome zu entwickeln, seien in dieser Statistik gar nicht erfasst. Die 150 Infektionen, die bis zum 2. März in Deutschland gezählt worden seien, nähmen bisher einen glimpflichen Verlauf, sagte Ciesek. „Bis auf den Düsseldorfer Patienten, der intubiert ist, geht es allen gut.“

Innerhalb von einer Woche sequenziert

Coronaviren, berichtete Ciesek in ihrem Vortrag, sind einsträngige RNA-Viren von hoher genetischer Variabilität, die im Tierreich weit verbreitet sind. Weil sie eine Proteinhülle haben, kann man sie relativ leicht inaktivieren. Der Humanmedizin sind seit langem sechs verschiedene Coronaviren bekannt, die für zehn bis 30 Prozent der Atemwegsinfektionen bei Erwachsenen verantwortlich sind. Zwei neue Vertreter des Virus sind erstmals 2002 und 2012 in Erscheinung getreten, nämlich zunächst das wahrscheinlich aus Fledermäusen auf Menschen übergesprungene SARS-Virus in China und zehn Jahre später das aus Kamelen übergesprungene MERS-Virus in Saudi-Arabien. SARS und MERS hätten damals weltweit jeweils 800 Todesopfer gefordert, was für SARS einer Mortalitätsrate von zehn, für MERS einer Mortalitätsrate von fast 30 Prozent entsprochen habe. Bei MERS gebe es überall dort, wo Menschen eng mit Kamelen zusammenleben, immer wieder einmal sporadische Fälle, SARS habe sich nach wenigen  Monaten relativ schnell eingrenzen lassen. „Bei SARS-CoV-2 gehen wir davon aus, dass es länger dauern wird.“

„Fast schon phänomenal“ sei es, so Ciesek, dass man das neu aufgetauchte Virus Anfang Januar innerhalb nur einer Woche isoliert und sequenziert habe. Es sei zu 80 Prozent mit dem SARS-Virus identisch, nutze vermutlich auch die Fledermaus als Hauptwirt, wahrscheinlich aber zusätzlich einen Zwischenwirt. Neben dem Angiotensin-konvertierenden Enzym 2 bediene es sich vermutlich noch anderer Eintrittsrezeptoren, um in Körperzellen zu gelangen. Denn anders als SARS niste sich SARS-CoV-2 nicht nur in den tiefen Atemwegen ein, sondern repliziere sich auch im Nasen-Rachen-Raum und im Darm. Deshalb brauche man für seinen diagnostischen Nachweis kein Sputum, ein gründlicher Rachenabstrich mit einer anschließenden mehrstufigen Polymerase-Kettenreaktion (PCR) reiche aus.

Nicht alle Infizierten zeigen Symptome

Am Frankfurter Uniklinikum habe man bereits am 25. Januar eine PCR etabliert, um Patienten auf das neue Coronavirus testen zu können. Im schlimmsten Fall könne Covid-19 sich zu einer atypischen Lungenentzündung auswachsen, die zu einem akuten Lungenversagen führen kann. In vier Fünfteln der Fälle zögen Infektionen mit SARS-CoV-2 aber bisher nur Symptome einer leichten Grippe nach sich – wenn sie überhaupt wahrnehmbar seien. Es bestehe begründeter Anlass zu der Vermutung, dass viele Menschen, die infiziert seien, kein Fieber hätten, während viele, die Fieber hätten, nicht infiziert seien. „Symptombasiertes Screening ist deshalb ineffektiv“, sagte Ciesek. Sie selbst hatte das mit ihrem Team bei deutschen China-Rückkehrern erstmals entdeckt und Mitte Februar im New England Journal of Medicine publiziert. Von den 126 Deutschen, die von Wuhan nach Frankfurt ausgeflogen worden waren, hatten sieben Symptome gezeigt. Tests auf das Virus waren bei ihnen aber negativ ausgefallen. Dagegen wurden zwei asymptomatische Passagiere positiv auf den Erreger getestet.

Wahrscheinlich nicht gefährlicher als Grippe

Wenn also viele Menschen eine SARS-CoV-2-Infektion gar nicht bemerkten, sei es einerseits äußerst fraglich, ob angesichts der heutigen globalen Reisefrequenz eine Eindämmung der Virusausbreitung möglich sei. Anderseits sei es ein Beleg für den weitgehend milden Verlauf einer Infektion. „Das Virus ist in erster Linie für ältere Menschen gefährlich – aber das ist die Grippe auch“, sagte Gottschalk. „Was macht das neue Coronavirus dann gefährlich im Vergleich zu einem Grippevirus?“, wurde Ciesek gefragt. „Eigentlich nichts“, antwortete sie. Abgesehen davon, dass es keinen Impfstoff gebe, resultiere nach heutigem Wissensstand die gefühlte Gefahr vor allem aus der Angst vor dem Unbekannten und der Angewohnheit mancher Medien, bevorzugt Experten zu interviewen, die möglichst reißerische Antworten geben. Hinzu komme all der „Mist“, so Gottschalk, der in den sozialen Medien kursiere.

Zwar werde intensiv an einem Impfstoff geforscht, aber selbst wenn es gelänge, im Laufe der nächsten Monate einen zu entwickeln, müsse er vor der Zulassung gründlich klinisch geprüft werden, so dass er voraussichtlich erst im kommenden Jahr zur Verfügung stünde. Besonders schwere Covid-19-Fälle versuche man derzeit punktuell mit HIV- und Malariamedikamenten zu behandeln. „Aber das ist hochexperimentell, da fehlen kontrollierte Studien“, sagte Ciesek. In Kooperation mit der Frankfurter Fraunhofer-Projektgruppe für translationale Medizin und Pharmakologie screene man derzeit überdies bereits zugelassene oder klinisch geprüfte Wirkstoffe Substanzen (aus der von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA für solche Zwecke freigegebenen Bibliothek) auf ihre Effektivität gegen SARS-CoV-2.

Infektionsgefahr noch nahe Null

„Der öffentliche Gesundheitsdienst ist in der Lage, auch ohne medikamentöse Therapie und ohne einen Impfstoff jede Pandemie zum Stehen zu bekommen“, unterstrich Gottschalk. „Wir können, dürfen und wollen nicht so rigide reagieren wie China, aber auch wir können effektive Maßnahmen ergreifen und gegebenenfalls mit richterlicher Hilfe in bestimmte Grundrechte eingreifen.“ Dabei komme es aber darauf an, Augenmaß zu bewahren, Rechtsgüter sorgfältig gegeneinander abzuwägen und die Berechtigung einmal getroffener Maßnahmen kontinuierlich zu überprüfen. Eine vorübergehende Schließung von Schulen hielte er nur in Ausnahmefällen für gerechtfertigt, keinesfalls aber vorsorglich, wenn dort noch keine Infektionsfälle aufgetreten wären. „In der Phase, in der wir jetzt sind, liegt die statistische Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren, noch nahe Null.“ Es komme nun darauf an, durch geeignete Maßnahmen die Virusausbreitung zeitlich zu verzögern und so deren Amplitude zu senken. „Dadurch gewinnen wir Zeit, in der neue Tests, Impfstoffe und Therapeutika entwickelt werden können und dadurch senken wir die Zahl der Infektionen und damit die Last für das Gesundheitssystem.“

Gesunder Menschenverstand und Hygienestandards

Außerordentlich belastend ist für Gottschalk und seine Mitarbeiter momentan die Suche nach Kontaktpersonen von Infizierten. „Wir sind ein großes Amt mit 250 Mitarbeitern und 50 Ärzten, aber das schaffen wir nicht mehr.“ Auch die Aussteigerkarten von Flugpassagieren mit ihren „völlig sinnbefreiten Fragen“ seien Kubikmeter von Papier, „die wir nicht bewältigen können“. Viel wichtiger sei es, auf konkrete Herausforderungen zu reagieren, wie zum Beispiel einer alleinerziehenden Mutter zu helfen, die infiziert ist, während ihre drei Kinder es nicht sind. 

Es sei für einen „Gesundheitsbeamten“ wie ihn nicht immer einfach, in Situationen wie diesen mit Politikern klar zu kommen, sagte Gottschalk. Aber in Hessen laufe die diesbezügliche Koordination derzeit wirklich gut. Generell sei es für alle Bürgerinnen und Bürger übrigens besser, den gesunden Menschenverstand walten zu lassen und die von den Behörden empfohlenen Hygienestandards einzuhalten als einen Mundschutz oder andere Schutzkleidung anzulegen. Die bräuchten nur die professionellen Helfer in den Kliniken und Infizierte. Für alle anderen gelte: „Es gibt keine evidenzbasierten Zahlen zur Wirksamkeit persönlicher Schutzausrüstung.“ Gottschalk wies auch darauf hin, dass Oberflächen wie Tische oder Türklinken – im Gegensatz zum Norovirus etwa – kein Übertragungsweg für SARS-CoV-2 seien, obwohl sie theoretisch darauf einige Tage überleben könnten. „Wäre das der Fall, hätten wir eine viel höhere Ausbreitungsgeschwindigkeit.“

„An welchem Punkt der Ausbreitungskurve befinden wir uns? Was ist zu erwarten?“ wurde Gottschalk abschließend gefragt. „Wenn ich das wüsste“, sagte er. „Mich beruhigt immerhin, dass die Zahlen in China nicht weiter ansteigen. Das halte ich für relativ glaubhaft. Das werden wir hier auch hinbekommen. Die Abflachung in China bedeutet aber noch keinesfalls eine Umkehrung. So weit sind wir nicht. Ich schätze, dass wir noch anderthalb bis zwei Monate ein Problem haben werden, bevor die Infektionszahlen abnehmen.“