„Ohne Investor gäbe es dieses Medikament heute nicht“

Arzneimittelinnovationen – made in Germany, gibt es die überhaupt noch? Aber selbstverständlich! Den „Deutschen Zukunftspreis“ zum Beispiel vergab der Bundespräsident in den vergangenen zehn Jahren drei Mal für völlig neue Arzneimittel, zuletzt 2018 an Professor Helga Rübsamen-Schaeff, weil sie mit ihrer eigenen Firma „das weltweit erste und einzige Medikament zur Vorbeugung gegen Infektionen mit einem weit verbreiteten Virus bei Knochenmarkstransplantationen“ entwickelt hat. Welchen Mutes und welcher Ausdauer es dazu allerdings bedurfte, schilderte die Preisträgerin in ihrer Keynote.

1994 hatte Rübsamen-Schaeff bei Bayer zunächst die Leitung der Virusforschung, später die der gesamten Infektionsforschung übernommen. „Über die Jahre bauten wir eine Pipeline mit sehr innovativen Substanzen und neuen Wirkmechanismen auf.“ Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit lag auf der Erforschung von Wirkstoffen gegen das Cytomegalievirus (CMV). Die Hälfte aller Menschen in den Industrienationen und fast alle Menschen in den Entwicklungsländern sind davon befallen. Normalerweise verläuft diese Infektion unsymptomatisch. Sie besteht lebenslang und bleibt unbemerkt, weil das Immunsystem eine Vermehrung der Viren verhindert. Bei jeder Form von Immunschwäche kann das Virus aber schnell vom Schläfer zum Killer werden. So kann es Patienten nach einer Transplantation das Leben kosten oder ungeborenen Kindern schwerste Behinderungen zufügen, wenn ihre Mutter es an sie überträgt.

Die CMV-Medikamente, die es gab, als Rübsamen-Schaeff ihre Forschung begann, hatten starke Nebenwirkungen, weil sie Hemmstoffe der Virus-Polymerase waren und damit auch den menschlichen Organismus angriffen. Zur Prophylaxe einer CMV-Vermehrung, wie sie zum Beispiel Leukämiepatienten nach einer Transplantation fremden Knochenmarks brauchen, waren sie ungeeignet. Die Bayer-Forscherin suchte deshalb nach Wirkstoffen gegen Angriffsziele des Virus, die der Mensch nicht hat – und entdeckte mit ihrem Team ein Chinazolin, das die virale Terminase hemmt. „Aber ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als wir die Substanz Letermovir entdeckt hatten, beschloss Bayer, seine Infektionsforschung einzustellen.“ Gerne könne sie ihre Projekte mitnehmen, wenn sie eine neue Firma dafür gründen wolle, sagte das Unternehmen seiner Chef-Virologin. Finanzieren müsse sie die Gründung aber selber.

„Eine globalisierte Welt braucht eine gute Infektionsforschung“

Dass sie die Ergebnisse ihrer Forschung nicht einfach aufgeben konnte, war für Rübsamen-Schaeff klar. Das mühsam aufgebaute Knowhow durfte nicht verloren gehen. „Eine globalisierte Welt braucht eine gute Infektionsforschung." Woher aber das Geld nehmen, um Unternehmerin zu werden? 120 Millionen Euro bräuchte sie, errechnete sie überschlagsmäßig, um ihre neue Firma so lange über Wasser zu halten, bis die erste Substanz in einer Phase-II-Studie Wirksamkeit bewiesen haben würde. Weder Wagniskapital noch die öffentliche Hand würden solche Summen finanzieren. Auch etablierte Pharmaunternehmen würden das Risiko scheuen. „Also suchte ich einen Investor mit Verständnis für die Pharmabranche und einer langfristigen Perspektive.“ Zum Glück wussten die Brüder Strüngmann, die gerade ihr Generika-Unternehmen Hexal verkauft hatten, von Rübsamens infektiologischer Exzellenz. In einem Telefonat schilderte die Forscherin Thomas Strüngmann ihr Problem. „Wer soll die Firma leiten?“ fragte Strüngmann. „Ich“, entgegnete Rübsamen-Schaeff. Nach kurzem Schweigen habe Strüngmann gefragt, wen er bei Bayer ansprechen müsse. Ein halbes Jahr später sei der Ausgründungsvertrag ausgehandelt gewesen, am 1. März 2006 das Spin-Off AiCuris unter Rübsamens Leitung an den Start gegangen.

Das Vertrauen in AiCuris zahlte sich aus

Von da an entwickelte sich Letermovir schnell zum Flagschiff der jungen Firma. „Fünf Jahre nach Gründung hatten wir sehr schöne Phase-II-Daten.“ Das zog Publikationen in führenden Fachzeitschriften wie dem New England Journal of Medicine und Lizenz-Anfragen einiger großer Pharmaunternehmen nach sich. „Im Oktober 2012 unterschrieb ich einen Lizenzvertrag mit Merck, Sharp & Dohme.“ 110 Millionen Euro waren der direkte Lohn für AiCuris, Meilensteinzahlungen von bis zu 330 Millionen wurden in Aussicht gestellt, auch weltweite Umsatzbeteiligung und Mitvermarktungsrechte. 2016 erreichten die von MSD durchgeführten Phase-III-Studien ihr Ziel und zeigten, dass Letermovir die CMV-Vermehrung sehr deutlich unterdrückte und auch die Mortalitätsrate nach Knochenmarkstransplantationen signifikant senkte. Im beschleunigten Verfahren erteilte die FDA dem Präparat im November 2017 die Zulassung. Inwischen ist Prevymis – so der Handelsname – in 18 weiteren Ländern zugelassen. Analysten prognostizieren einen Jahresumsatz im hohen dreistelligen Millionenbereich allein in der bisher zugelassenen Indikation Knochenmarkstransplantation. Klinische Prüfungen für weitere Indikationen sind in Vorbereitung oder haben bereits begonnen.

Geist, Geduld, Glück und Geld – das seien nach einem rund 100 Jahre alten Bonmot Paul Ehrlichs die vier Bedingungen erfolgreicher Forschung. Das gelte noch heute. „Ohne Paul Ehrlichs viertes großes G gäbe es dieses wertvolle Medikament heute nicht.“ Deutschland brauche deshalb, appellierte die Zukunftspreisträgerin, dringend bessere Finanzierungsmöglichkeiten für seine Biotechnologiesparte. Denn deren Potential sei sehr hoch.