Ein Marathon mit ungewissem Ausgang

Das Konzept "Diesease Interception“ wirft viele Fragen auf

Das Konzept der „Disease Interception“ – also Krankheiten zu erkennen und zu behandeln, bevor sie Symptome verursachen – wirft nicht nur medizinische, sondern auch ethische und finanzielle Fragen auf. Die Diskussion um Chancen und Herausforderungen dieses Konzeptes nimmt Fahrt auf, wie ein von Janssen Deutschland angebotene Workshop zeigte. Zum Einstieg präsentierte Tim Jäger, Gesundheitsökonom des Unternehmens im Bereich Immunologie und Infektionskrankheiten, ein Fachbuch zum Thema: Disease Interception – Implikationen einer frühen Diagnose und Krankheitsunterbrechung für Medizin und Gesellschaft. Mit der Unterstützung dieser Sammlung wissenschaftlicher Artikel, so Jäger, wolle die Firma Janssen einen Beitrag zur notwendigen medizinischen und gesellschaftspolitischen Debatte um das Thema leisten. Das Ziel einer „Disease Interception“ ist es, den Ausbruch einer Erkrankung vor dem Auftreten klinischer Symptome zu erkennen, um diese aufhalten, verzögern oder sogar umkehren zu können. Eine besondere Rolle kommt dabei Biomarkern zu, die in der Lage sind, die Vorstufen von krankmachenden Veränderungen anzuzeigen. Wie Tim Jäger erläuterte, geht es darum, Menschen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko besonders zu überwachen und so früh wie möglich zu behandeln. Dies geschehe in vier Phasen: In Phase 1 werden Menschen mit sehr hohem Erkrankungsrisiko identifiziert und in Phase 2 in ein individuelles medizinisches Monitoring aufgenommen. Phase 3 umfasst die frühzeitige diagnostische Betreuung der Betroffenen vor Ausbildung erster klinischer Symptome, d.h. noch in der präklinischen, symptomfreien Phase. In Phase 4, dem so genannten „Interception Window“, beginnt dann eine medikamentöse Intervention mit dem Ziel, den Krankheitsprozess aufzuhalten, zu verzögern oder umzukehren. Wie Tim Jäger berichtete, konzentriere sich die diesbezügliche Forschung momentan vor allem auf die Indikationsgebiete Hämato-Onkologie (z.B. Smoldering Syndrom), Psychiatrie (v.a. Alzheimer-Erkrankung) und Immunologie (Diabetes Typ 1).

Wem hilft es zu wissen, dass er an Alzheimer erkranken wird?

Professor David Matusiewicz (Dekan Gesundheit und Soziales an der privaten FOM Hochschule in Essen), wies in seinem anschließenden Vortrag allerdings darauf hin, dass es zu dem von Jäger umrissenen Forschungsbereich momentan „noch mehr Fragen als Antworten gibt“. Ab wann gilt ein Mensch als „Patient“? Immerhin weisen vermutlich viele Menschen irgendeine Unregelmäßigkeit in ihren Genen auf. Wie hoch müssen Sensitivität (Prozentsatz, mit dem im Test eine bestimmte Krankheit tatsächlich erkannt wird) und Spezifizität (Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich Gesunde, die nicht an einer Erkrankung leiden, im Test auch als gesund erkannt werden) der Tests sein, um sie in der medizinischen Praxis anwenden zu können? Ab welcher Wahrscheinlichkeit wird ein Krankheitsrisiko manifest und klinisch so relevant, dass es behandelt werden muss? Und gehört das dann in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen? Wer hat wann welchen Vorteil davon? Wie hoch ist überhaupt der Informationswert eines solchen Testergebnisses für eine Person – sprich was nutzt es ihr zu wissen, dass sie möglicherweise in fünf Jahren schwer krank wird? Eine Momentaufnahme aus dem Workshop: Auf die Frage „Wer von den Teilnehmern würde gerne wissen, ob er einmal an Alzheimer erkrankt oder nicht?“, gingen einige Finger hoch, viele aber blieben unten. „Es gibt auch ein Recht auf Nichtwissen“, betonte Matusiewicz. Zahlreiche anwesende Experten beteiligten sich an der lebhaften und kontroversen Diskussion mit den beiden Referenten. Dabei wurde klar: Eine erfolgreiche „Disease Interception“ würde für die medizinische Praxis einen echten Paradigmenwechsel bedeuten. Doch der Weg dorthin, so Tim Jäger, „wird ein Marathon und kein Sprint.“