Mehr Produktivität durch digitalen Wandel
Pharmabranche sollte radikalen Umbruch wagen
Nach einer langen Phase der Stagnation hat die pharmazeutische Industrie ihre einstige Innovationskraft zwar wiedergewonnen. So lag die Zahl der von der amerikanischen FDA zugelassenen Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen (NCEs) 2018 fast doppelt so hoch wie im Durchschnitt des Jahrzehnts von 2007 bis 2016 (59 vs. 32). Dieser Erfolg zahlt sich – summarisch auf die 25 größten Pharmaunternehmen bezogen – aber nicht aus, weil diese Unternehmen deutlich mehr für Forschung und Entwicklung ausgeben als sie durch ihre Verkaufserlöse einnehmen. Produktivitätssteigerungen sind also notwendig. Die intelligente Verwertung von Gesundheitsdaten, deren Umfang und Komplexität ihresgleichen suche, könnte dafür einzigartige Gelegenheiten bieten, sagte Dr. Frank Wartenberg.
Drei Vorteile der Digitalisierung
Gesundheits-Apps – wie zum Beispiel auf der Apple Watch – liefern schon heute eine Fülle überzeugender alltäglicher Gesundheitsdaten („Real World Data“). Ausgehend von einem exponentiellen Wachstum dieser und anderer gesundheitsbezogener Daten und der entsprechenden Speicherkapazitäten sowie den raschen Fortschritten analytischer maschineller Intelligenz und digitaler Konnektivität, unterteilte Wartenberg die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Pharma- und Gesundheitsbereich in drei Kategorien:
- Tiefere Einsichten: Die Digitalisierung erschließt bisher unzugängliche Ebenen der Erkenntnis. Das gilt heute schon insbesondere im Bereich der bildgebenden Diagnostik, sei es z.B. in der Radiologie oder der Dermatologie. Das gilt allgemein und perspektivisch aber auch für die Präzisierung derjenigen Parameter, welche den Entscheidungen für Prävention und Therapie zugrunde liegen oder die Basis für die Entwicklung von Forschungs- und Marketingstrategien bilden.
- Größere Effizienz: Die Digitalisierung erlaubt schnellere und kostengünstigere Geschäftsprozesse. Das betrifft beispielsweise die Erfassung und Dokumentation von Patientendaten im Krankenhaus, die Beziehungen zwischen Krankenhäusern und Kostenträgern sowie die Patientenrekrutierung für und die Durchführung von klinischen Studien. Es betrifft auch das Pharmakovigilanz- und Compliancemanagement.
- Innovative Geschäftsfelder: Die Digitalisierung ermöglicht neuartige Formen der kundenzentrierten Kommunikation und Organisation. So entsteht das Feld der Telemedizin, so entstehen Apps, die als Therapeutika fungieren und zugelassen werden können. So entsteht die Möglichkeit virtueller klinischer Studien. So lassen sich Pay-for-Performance-Modelle operationalisieren, bei denen die Kostenerstattung vom Behandlungserfolg abhängig ist.
Kommen bald virtuelle klinische Studien?
Eine besonders große Chance der Digitalisierung, die Wartenberg in der Schnittmenge aller drei Kategorien verortete, besteht für pharmazeutische Unternehmen darin, die klinische Entwicklung ihrer Arzneimittelkandidaten effizienter zu gestalten. Das beginnt bei einer besseren Planung: 86 Prozent aller klinischen Studien verzögerten sich heute um bis zu sechs Monate wegen unpräziser Auswahl von Studienzentren und schleppender Rekrutierung von Patienten. Jeder Monat, den ein neues Arzneimittel zu spät auf den Markt komme, schlage durchschnittlich mit einem Verlust von 240 Millionen US-Dollar zu Buche. Sein Unternehmen beschäftige deshalb ein Team von weltweit 220 Experten, das sich mit der Optimierung der Auswahl der Zentren für klinische Studien beschäftige. Das Team wende auf Big Data aus dem Gesundheitswesen Methoden der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens an. Es entwickle Algorithmen einer prädiktiven Analytik, mit deren Hilfe sich mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen lasse, welche Zentren für eine klinische Studie eines bestimmten Wirkstoffs mit bestimmten Patientengruppen in einer bestimmten Indikation am besten geeignet seien und ausreichend Patienten dafür rekrutieren könnten. In den präklinischen Phasen könne man überdies Algorithmen programmieren, mit deren Hilfe sich die Sicherheit und Wirksamkeit von Entwicklungssubstanzen extrapolieren und die für eine klinische Prüfung bestgeeigneten auswählen ließen. Bereits in der Pharmaforschung versuche man, aus der intelligenten Analytik großer Datenmengen Hypothesen über mögliche neue Indikationsgebiete von Entwicklungskandidaten abzuleiten.
„Die nächste große Sache in Forschung und Entwicklung“ werde, so Wartenberg, die Einführung virtueller klinischer Studien sein. Die Patienten müssten dann nicht mehr in einer Klinik vorstellig werden, um in eine Studie aufgenommen zu werden oder sich im Rahmen dieser Studie einem Check-up zu unterziehen. Vielmehr könnten sie mit dem jeweiligen Prüfarzt per Skype oder Facetime kommunizieren, zuhause von einer ambulanten Fachkraft betreut werden und so von überall her über eine digitale Plattform an einer Studie teilnehmen. Das sei vor allem für die Entwicklung von Medikamenten gegen seltene Krankheiten vielversprechend, bei denen die Rekrutierung von ausreichend vielen Patienten schwierig ist. Auf diesem Gebiet erhofft sich Wartenberg durch die Digitalisierung auch große Fortschritte in der Diagnostik. Denn derzeit dauere es noch durchschnittlich 4,8 Jahre, bevor einem Patienten nach Auftreten der Symptome einer seltenen Krankheit eine akkurate Diagnose gestellt werde.
Online-Marketing mit zielgenauer Qualität
Je präziser sie die molekularen Angriffspunkte ihrer Wirkstoffe definieren kann, zum Beispiel bei Biologika, desto spezieller und teurer werden die Innovationen der Pharmaindustrie. Sie richten sich an immer kleinere Patientengruppen und treffen gleichzeitig auf ein immer kostenbewussteres Gesundheitssystem. „In dieser Situation ist es eine der großen Herausforderungen der Industrie, ihre Produkte erfolgreich auf den Markt zu bringen und Kunden wie Kostenträger von deren Wert zu überzeugen.“ Die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation mit ihren professionellen Zielgruppen in einem Multichannel Communication Approach voll auszuschöpfen sei dafür eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung, erläuterte Frank Wartenberg. Eine größere digitale Kommunikationsaktivität korreliere mit einem größeren geschäftlichen Erfolg bei der Markteinführung eines Produkts. Einfach nur stärker digital zu sein, reiche jedoch nicht aus. Die Nutzung digitaler Medien müsse Hand in Hand mit einer hohen Kommunikationsqualität gehen. Man müsse zur richtigen Zeit den richtigen Kanal mit der richtigen Botschaft bespielen. Es komme darauf an, sich auf die Bedürfnisse verschiedener Kundengruppen einzustellen und den Austausch mit diesen sorgfältig und differenziert zu orchestrieren. Mit prädiktiver Analytik könne man Gesundheitsdaten wie Verschreibungsmuster und genomische Informationen zum Beispiel daraufhin durchforsten, welche Patientengruppen von einer Behandlung mit einem neuen Medikament voraussichtlich am meisten profitieren würden und deren Ärzte gezielt ansprechen.
Differentialdiagnostisch begabte Chatbots
Mehr und mehr rückt im Zuge der Digitalisierung auch die direkte Kommunikation mit Patienten in den Blickpunkt. Wartenberg demonstrierte exemplarisch das Online-Gespräch eines Mannes, der an Magenschmerzen leidet, mit einem medizinisch versierten Chatbot, der dem Patienten in wenigen Schritten zu einer Differentialdiagnose verhilft. Nach Angaben des britischen Start-ups Babylonhealth, das unter anderem solche virtuellen Konsultationen anbietet, sind seine Chatbots Allgemeinärzten in medizinischen Examen überlegen. Zwar dürfe die Komplexität ärztlicher Entscheidungen keinesfalls unterschätzt werden, wie die Schwierigkeiten von IBMs Maschine Dr. Watson zeige. In zunehmend ausdifferenzierten Gesundheitswesen (mit z.B. mehr als 300.000 onkologischen Behandlungsoptionen) mit immer anspruchsvolleren Patienten und immer höherem Kostendruck sei es aber absehbar, so Wartenberg, dass Maschinen eines Tages bessere evidenzbasierte klinische Entscheidungen treffen könnten als Ärzte. Das werde zu einer Machtverschiebung zugunsten von Datenbesitzern und -verarbeitern führen. Dadurch werde sich vermutlich schon mittelfristig auch das Geschäftsmodell der pharmazeutischen Industrie ändern. Um im Wettbewerb bestehen zu können, müsse sie jenseits ihrer Kernkompetenz, neue Moleküle zu entwickeln und zu vermarkten, durch eine digitale Vertiefung und Verbreiterung ihres Geschäftes zum Anbieter integraler Behandlungserfolge werden. Die Mehrzahl der dafür erforderlichen Gesundheitsdaten freilich sei gar nicht im Besitz von Big Pharma. Klug geschmiedete Kooperationen mit Datenbesitzern seien daher erfolgskritisch.