Arzneimittelversorgung in Europa sicherstellen!

Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH) sprach an der Goethe-Universität über die Folgen des Brexits.

Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union wird auch auf die Arzneimittelindustrie erhebliche Auswirkungen haben. Im Rahmen der „Friday Talks“ im Pharma-MBA des House of Pharma & Healthcare vermittelte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittelhersteller (BAH), Dr. Martin Weiser, einen umfassenden Überblick über das Thema.

Im Rückblick auf die politische Entwicklung seit dem überraschenden Austrittsvotum der Briten am 23. Juni 2016 verdeutlichte Martin Weiser zunächst, wie ungewiss die Konditionen des britischen Exits aus der Europäischen Union nach wie vor sind. Zwar sei nach dem derzeitigen Stand der Verhandlungen davon auszugehen, dass der britische Austritt nach Artikel 50 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) am 30. März 2019 vollzogen werde. Denkbar und aufgrund der hohen Zahl ungelöster Probleme auch wünschenswert, sei allerdings eine Verlängerung des Verhandlungsprozesses, dem jedoch alle Beteiligten zustimmten müssten. Irritierend sei einerseits, wie zögerlich die britische Regierung den Brexit betreibe, und andererseits, wie wenig ernst die Briten dessen Konsequenzen zu nehmen schienen. 

Kein Grund zur Fröhlichkeit

„Don’t worry, be happy!“ klinge es bei britischen Gesprächspartnern in einer Art „Blue-Sky“-Attitüde immer wieder an, als werde sich in den Wirtschaftsbeziehungen zu Europa nichts Dramatisches ändern. Das aber sei ein Irrtum, betonte Weiser, zumal eine klare Strategie der britischen Regierung bis heute nicht erkennbar sei. Mehr als neun Monate habe diese Regierung verstreichen lassen, bevor sie den Austrittsprozess am 29. März 2017 durch eine schriftliche Mitteilung an den Europäischen Rat offiziell einleitete. Erst am 19. Juni 2017 begannen die Austrittsverhandlungen. Am 19. März 2018 einigte man sich auf eine Übergangszeit des Brexit vom 30. März 2019 bis zum 31. Dezember 2020. In dieser Übergangsphase wird Großbritannien weiterhin Teil des europäischen Binnenmarktes bleiben und das geltende EU-Recht anerkennen, ohne jedoch länger in den entsprechenden Gremien der EU und ihrer Behörden mitwirken zu können. Damit der Austritt geordnet vollzogen werden kann, erinnerte Weiser, müssten allerdings die Verhandlungen über das Austrittsabkommen, bis Ende Oktober 2018 abgeschlossen sein, damit es den nationalen Parlamenten fristgerecht zur Ratifizierung vorgelegt werden kann: „Die Zeit wird knapp!“, resümierte Weiser.

Auch wenn man noch nicht wisse, welchen Status die Post-Brexit-Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien haben würden, so Weiser, sei es realistisch anzunehmen, dass Großbritannien für die verbleibenden 27 EU-Staaten (EU 27) am 30. März 2019 zu einem Drittstaat werde. Große Unternehmen wüssten, was kommen werde, und bereiteten sich auf die damit einhergehenden Veränderungen bereits vor. Für kleine und mittelständische Unternehmen stellten die Folgen des Brexits dagegen eine große Herausforderung dar. Für die pharmazeutische Industrie sei vor allem in fünf Bereichen mit gravierenden Auswirkungen zu rechnen.

Firmensitz

Pharmazeutische Unternehmer, die nach dem Brexit ihre Arzneimittel sowohl in Großbritannien als auch in den EU 27-Staaten vertreiben wollen, brauchen dafür zwei eigenständige und angemessen ausgestattete Niederlassungen sowohl in Großbritannien als auch innerhalb der EU 27.

Pharmakovigilanz

Die Verdoppelung der Strukturen betrifft insbesondere auch die Pharmakovigilanz. Ein in Großbritannien und der EU 27 tätiges Pharmaunternehmen muss hier wie dort eine „Qualified Person responsible for Pharmacovigilance“ benennen. Das werde voraussichtlich zu Engpässen führen, sagte Weiser, weil es bereits heute ausgesprochen schwierig sei, geeignete Personen für diese verantwortungsvolle Aufgabe zu finden. Generell müssten überdies alle Anzeigeprozesse in der Arzneimittelsicherheit geändert werden, weil alle Einzelfall- und periodischen Berichte in der jeweils anderen Region fortan als Drittstaatenberichte behandelt würden.

Klinische Forschung

2014 beschloss die EU, ihre alte Richtlinie zu den Good Clinical Practices aus 2001 durch eine neue Verordnung zur Durchführung von klinischen Prüfungen (Nr. 536/2014) abzulösen. Ziel war es, eine Harmonisierung von Genehmigungs-, Melde- und Bewertungsverfahren bei multinationalen klinischen Prüfungen herbeizuführen und dafür 2019 ein gemeinsames elektronisches EU-Portal in Betrieb zu nehmen. Mit dem Brexit verliert diese neue Verordnung ihre Gültigkeit in Großbritannien. Auch wenn die alte Richtlinie mit nationaler Umsetzung noch bis maximal 2022 anwendbar sei, so Weiser, sollten pharmazeutische Unternehmen schon jetzt prüfen, ob ein neuer Antrag auf Genehmigung einer klinischen Prüfung mit Beteiligung Großbritanniens noch sinnvoll ist. Inwieweit die Fortführung laufender klinischer Prüfungen nach altem Recht über den Tag des Brexits möglich sein wird, ist derzeit noch ungeklärt.

Produktion und Lieferketten

Wirkstoffe, die nach dem 30. März 2019 aus Großbritannien in die EU 27 importiert werden, brauchen dafür mindestens ein von der EU anerkanntes britisches GMP-Zertifikat oder sogar eine Einfuhrerlaubnis gemäß § 72 Abs. 1 AMG, wenn sie menschliche, tierische, mikrobielle oder gentechnische Herkunft haben. Auch entsprechend aus Großbritannien importierte Arzneimittel würden dann Drittland-Status haben und einer Einfuhrerlaubnis bedürfen. Ferner sei davon auszugehen, dass Freigaben, die nach dem Brexit in Großbritannien erfolgen, nicht mehr für die EU 27 gültig seien. Es seien nach Auskunft des Bundeswirtschaftsministeriums zwar keine nennenswerten Zölle für den Pharmabereich zu erwarten, aber der administrative Aufwand entsprechender Verfahren würde aber deutlich ins Gewicht fallen und die Lieferketten verlangsamen. Dass ein Wirkstoff beispielsweise in Großbritannien hergestellt, die Fertigung des Arzneimittels dann in Deutschland und dessen Verpackung wiederum in Großbritannien stattfinde, bevor seine Distribution innerhalb der EU erfolge, sei heutzutage nicht selten. Nach dem Brexit, so Weiser, würde ein solcher Geschäftsprozess mehrfach durch Grenzkontrollen aufgehalten werden.

Zulassung

Die regulatorischen Konsequenzen des Brexits bereiteten den Pharmaunternehmen offenbar am meisten Kopfzerbrechen, meinte Weiser. Der bevorstehende Umzug der Europäischen Arzneimittelagentur EMA von London nach Amsterdam sei nur der auffälligste damit zusammenhängende Aspekt. Zwar gehe er davon aus, dass der Business Continuity Plan, den die EMA ausgearbeitet hat, um ihre Funktionsfähigkeit während der Umzugsphase zu gewährleisten, robust genug sei, um seinen Zweck zu erfüllen. Angesichts der führenden Rolle, die Großbritannien bisher als Rapporteur in zentralen Zulassungsverfahren gespielt habe, sei aber mit erheblichen Verschiebungen zu rechnen. In der Übergangsphase gelte es insbesondere zu bedenken, dass eine zentrale Zulassung für ein Arzneimittel, die vor dem 30. März 2019 beantragt, aber erst danach erteilt werde, in Großbritannien nicht mehr gelte. Jedes Unternehmen sollte deshalb prüfen, ob es schon heute parallel zu einer zentralen Zulassung eine nationale Zulassung in Großbritannien beantrage. Auch in vielen dezentralen Verfahren sowie den Verfahren zur gegenseitigen Anerkennung von Zulassungen habe Großbritannien eine wichtige Funktion als Referenzland (Reference Member State = RMS). Unternehmen, deren Präparate in ein solches Verfahren eingebunden sind, sei zu empfehlen, die britische RMS-Funktion rechtzeitig auf ein an diesem Verfahren beteiligtes Land (Concerned Member State = CMS) zu übertragen.

Allerdings gab Weiser teilweise Entwarnung, formuliere der Brexit-Entwurf vom 19. März dieses Jahres in seinen Artikeln 40 und 41 doch die Absicht, dass bereits zugelassene und verfügbare Arzneimittel nach dem Brexit sowohl in Großbritannien als auch in der EU 27 weiterhin verkehrsfähig bleiben. Problematisch sei allerdings, dass sich diese derzeit harmonisierten Zulassungen im Laufe ihres Lebenszyklus bei entsprechenden Änderungen, die in der EU 27 und in Großbritannien nicht zwingend deckungsgleich sein werden, perspektivisch inhaltlich auseinanderentwickeln und mittelfristig deutlich unterscheiden könnten. Darüber hinaus müssten die Unternehmen unmittelbar aktiv werden und für alle laufenden dezentralen Zulassungsverfahren, in denen Großbritannien als RMS fungiert, einen neuen RMS suchen.

Positionspapier an die Adresse der Politik

Bedenklich sei, so Weiser, dass durch den Brexit eine Reihe von gemeinsamen europäischen Arzneimittel-Projekten gefährdet sei. Das gelte nicht nur für Projekte, die im Rahmen von Horizon 2020 gefördert würden und die öffentlich-private Partnerschaft der Innovative Medicines Initiative (IMI), sondern mehr noch für das Europäische Netzwerk für Health Technology Assessment, einem zentralen Projekt der europäischen Gesundheitspolitik, bei dessen Aufbau das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) bisher eine wesentliche Rolle spiele. Insgesamt sei es dringend geboten, Vereinbarungen zu treffen, die die Kontinuität der Arzneimittelversorgung für Patienten in Großbritannien und der Europäischen Union auch nach dem Brexit sicherstelle. Unter Mitwirkung des BAH habe die europäische „Life Science Industry Coalition“ deshalb im Dezember 2017 ein Positionspapier veröffentlicht, das die politisch Verantwortlichen detailliert an diese Verantwortung erinnere. Auch habe der BAH zum Brexit-Kompendium der deutschen Industrieverbände beigetragen und bereits im September 2017 einen Brexit-Leitfaden mit konkreten Handlungsempfehlungen für seine Mitgliedsunternehmen veröffentlicht. Weil es derzeit völlig offen sei, welche Konditionen für einen geregelten Austritt Großbritanniens innerhalb des gesetzten Zeitrahmens ausgehandelt werden würden, sagte Weiser, sollten sich alle betroffenen Unternehmen diesbezüglich sorgfältig auf dem Laufenden halten – am besten seien sie aber derzeit beraten, „sich auf ein No-deal-Szenario vorzubereiten, in dem Großbritannien am 30. März 2019 ohne eine neue vertragliche Lösung aus der EU ausscheidet“.