Der mühsame Weg zu präziseren Psychopharmaka

Die Komplexität psychischer Erkrankungen und hohe regulatorische Anforderungen erschweren Entwicklung und Marktzugang innovativer Psychopharmaka

Mehr als vierzig Prozent der Bevölkerung leiden mindestens einmal im Leben an einer psychischen Erkrankung. In der Europäischen Union leiden zu jedem Zeitpunkt 84 Millionen Menschen – etwa ein Sechstel der Bevölkerung – an einer psychischen Erkrankung, die meisten von ihnen an einer Depression (major depressive disorder = MDD). Schwere psychische Erkrankungen vermindern die Lebenserwartung um mehr als zehn Jahre. Der therapeutische Bedarf ist also enorm. Dementsprechend sind in den vergangenen Jahren Psychopharmaka mit neuen Ansätzen entwickelt worden oder befinden sich noch in fortgeschrittenen Stadien der klinischen Prüfung. „Die Zulassungsbehörden sind offen für die Bewertung neuer therapeutischer Ansätze und einen frühzeitigen Austausch mit Akademia und Pharmaindustrie“, sagte Prof. Dr. Karl Broich, der Präsident des Bundesamtes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Sein Vortrag eröffnete den Runden Tisch „Zukunft der Psychopharmakaforschung“, den die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) gemeinsam mit dem House of Pharma & Healthcare und der Goethe-Universität Frankfurt am Main veranstaltete. „Uns ist ein neues wirksames Medikament immer willkommen“, betonte Broich. Für den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) sind jedoch andere Kriterien entscheidend als für die Zulassungsbehörde. So sprach der G-BA im Zuge des AMNOG-Verfahrens dem seit 2019 zentral in der EU zugelassenen MDD-Medikament mit dem Wirkstoff Esketamin erst 2023 im zweiten Anlauf einen beträchtlichen Zusatznutzen in der Indikation der therapieresistenten Depression zu. Seit der Einführung des AMNOG-Verfahrens im Jahre 2011 wurde zudem erst einem anderen neuen Psychopharmakon ein Zusatznutzen durch den G-BA zugesprochen, nämlich Reagila mit dem Wirkstoff Cariprazin. Der Bereich der Psychopharmaka bildet also das Schlusslicht bei den Nutzenbewertungen des G-BA. Dass es so schwer ist, neue Psychopharmaka erfolgreich zu den Patienten zu bringen, liegt aber nicht nur an den Vorgaben des G-BA, sondern auch an einer grundsätzlichen Herausforderung für die Psychiatrie: Sie kann die von ihr behandelten Krankheiten zwar klinisch beschreiben, die zugrundeliegenden biologischen Mechanismen jedoch noch nicht ausreichend erklären und ihren aktuellen diagnostischen Entitäten zuordnen. „Sie stochert im Dunkeln“, wie es Jurand Daszkowski aus der Sichtweise des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener formulierte.

Das Dilemma psychiatrischer Diagnostik

Dennoch könnte mit einer leitliniengerechten Therapie schon heute der Mehrzahl aller schwer depressiven Patienten geholfen werden, wenn deren Hausärzte die Krankheit korrekt diagnostizieren und adäquat behandeln würden und wenn die Compliance unter den Patienten gesteigert werden könnte. Weil das zu selten der Fall sei, sagte Prof. Dr. Andreas Reif (DGPPN), würde gegenwärtig nur eine Minderheit aller MDD-Patienten effektiv behandelt. Biomarker wären wünschenswert, um diese unbefriedigende Situation zu verbessern, jedoch werde es keinen Biomarker für „Depression“ als singuläre Diagnose geben, solange diese Krankheit in den Diagnostikmanualen DSM oder ICD nicht biologisch definiert worden sei. Es komme also zunächst darauf an, für eine „Optimierung der Versorgungsketten“ zu sorgen. Das sei umso wichtiger, als es sich bei der Depression um eine sehr heterogen ausgeprägte Krankheit handele – so sind theoretisch 227 Symptomkombinationen möglich und auch in der Praxis bestünden distinkte Symptomcluster. Ähnlich wie andere psychische Krankheiten sei die „Depression“ eine Netzwerkerkrankung, die sich auf unterschiedlichen Ebenen abspiele. Die psychiatrische Diagnostik sei bei der Depression wie auch generell in einem Dilemma gefangen: Wenn sie die Krankheit in klinischen Merkmalen beschreibe – was die aktuellen Ansätze ganz überwiegend täten –, dann lägen den gleichen Merkmalen möglicherweise unterschiedliche biologische Mechanismen zugrunde; wenn sie dagegen nach Mechanismen zu differenzieren versuche, dann stelle sie fest, dass sich aus gleichen Mechanismen unterschiedliche Krankheitsbilder (klinische Phänotypen) ableiten ließen. Dieses Dilemma verursache erhebliche regulatorische Probleme. Denn zweifelsohne müssten zukünftige Präzisionsmedikamente auf biologisch definierte Krankheitsmechanismen abzielen, nach denen auch die Patienten entsprechender Zulassungsstudien ausgewählt werden müssten. Die Vergleichspräparate solcher Studien hatten ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit aber in Patientenpopulationen erwiesen, die anhand klinischer Merkmale stratifiziert worden waren. Diese Schieflage erschwert einen Erfolg im AMNOG-Verfahren. Denn für den G-BA sind bei der Nutzenbewertung eines neuen Arzneimittels gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie (ZVT) gemäß § 35a SGB V die Patientengruppen, für die ein Zusatznutzen besteht, ein entscheidendes Kriterium. Das machte der GBA-Experte Dr. Marc Oppermann klar. Aber auch schon die Zulassung innovativer Antidepressiva wird von dieser Schieflage behindert. Die vielen Präparate, die 2011 in aussichtsreichen Spätphasen der klinischen Entwicklung waren, sind fast alle gescheitert, wie Andreas Reif zeigte. Vier relativ alte, allesamt generisch erhältliche Antidepressiva machten heute in Deutschland zwei Drittel aller Verordnungen aus. „Von einer Präzisionsmedizin, die eine differentielle Behandlung unterschiedlicher Subgruppen ermöglichen würde, sind wir noch weit entfernt.“

Entwicklung vom Kopf auf die Füße stellen!

Immerhin gibt es interessante Ansätze zur Entwicklung präziser wirkender Antidepressiva. Das verdeutlichten Dr. Maximilian Schuier von Janssen-Cilag und Dr. Vikas Sharma von Boehringer Ingelheim. Sharma plädierte vehement dafür, die Entwicklung von Psychopharmaka künftig vom Kopf auf die Füße zu stellen, also dabei nicht mehr top-down, sondern bottom-up vorzugehen. Die Forschung müsse von den Patienten ausgehen und fragen: Was sind deren Bedürfnisse, welche biologischen Faktoren liegen ihrer Krankheit zugrunde und wie lässt sich der Verlauf dieser Krankheit messen und überwachen? Im Zuge einer reversen Translation vom Krankenbett zurück ins Labor gelte es dann, die ärztlichen Beobachtungen in eine überprüfbare Hypothese zu übersetzen, die die Symptome mit neuronalen Schaltkreisen verknüpft. Darauf aufbauend ließen sich Therapeutika entwickeln, die auf präziser definierte neuronale Netzwerke im Gehirn zielen. Als beispielhaftes Ergebnis eines solchen Vorgehens nannte Sharma ein fortgeschrittenes Präparat seines Unternehmens, das bestimmte Ionenkanäle für Natrium und Calcium (TRPC4/TRPC5) hemmt, die bei Stress für eine Aktivitätssteigerung des Mandelkerns im limbischen System sorgen. Schuier dagegen hob auf ein besseres Verständnis der Interaktion zwischen Opioidrezeptoren und monoaminergen Signalwegen im Gehirn ab. Opioidrezeptoren seien nicht nur in Schmerz und Sucht involviert, sondern spielten auch eine Rolle bei der Steuerung von Gefühlen und Stimmungen. Hier setze sein Unternehmen mit der Entwicklung eines Kappa-Opioid-Rezeptor-Antagonisten an. Ein weiteres Präzisionsprojekt seines Unternehmens ziele auf die selektive Hemmung von Orexin-2-Rezeptoren. Orexine sind Neurotransmitter, die aus dem Hypothalamus heraus das ganze Gehirn durchziehen. Sie regeln grundlegende Lebensrhythmen wie Appetit und Schlaf, Motivation und Gefühlshaushalt. Neuerdings kennt man sie auch als Induktoren von Stress. Das Unternehmen, bei dem Schuier in leitender Position tätig ist, hatte 2019 auch Esketamin zur Zulassung und letztendlich erfolgreich durch das AMNOG-Verfahren gebracht (siehe oben), ein Nasenspray zur Behandlung therapieresistenter Depressionen in Kombination mit monoaminerg wirkenden Präparaten. Esketamin ist ein Antagonist des Glutamat-Rezeptors NMDA, der in Deutschland als Racemat bereits seit 1997 als Anästhetikum eingeführt war, bevor seine antidepressive Wirkung entdeckt wurde.

Leitlinien sollten den Patienten und nicht den Behörden dienen

Esketamin sei auch wegen einer zu kurzen Studiendauer und wegen einer fehlenden Vergleichssubstanz vom G-BA zunächst kein medizinischer Zusatznutzen zugesprochen worden, sagte Marc Oppermann. Generell komme es bei der Nutzenbewertung von Arzneimitteln auf eine solide therapeutische Gesamtstrategie und valide patientenrelevante Endpunkte der Wirksamkeit sowie auf das Nebenwirkungsprofil an, bei Psychopharmaka achte man besonders auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität und auf eine nachhaltige Wirksamkeit, weil es sich häufig um eher chronische Erkrankungen handele. Das Ergebnis der Nutzenbewertung diene als Grundlage nachfolgender Preisverhandlungen, sei aber auch zur Information der Patienten gedacht. Welche zweckmäßige Vergleichstherapie (ZVT) für die Nutzenbewertung eines neuen Präparates herangezogen werde, ergebe sich meist aus den Leitlinien. „Damit sind wir nicht immer glücklich“, sagte Prof. Dr. Tom Bschor von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. „Die Leitlinien sind für die Behandlung von Patienten gedacht und nicht für regulatorische Zwecke.“ Die Lebensqualität sollte ihrer Ansicht nach an allererster Stelle der patientenrelevanten Endpunkte stehen, sagte Waltraud Rinke von der Deutschen DepressionsLiga. „Nehmen Sie auch die Klagen über Nebenwirkungen ernst und tun Sie diese nicht lapidar ab“, appellierte sie an die Ärzte. Die Lebensqualität werde von seiner Behörde hoch eingeschätzt, sagte Karl Broich. Die gängigen Skalen, nach denen sie gemessen würde, seien jedoch verbesserungsbedürftig. „Wir machen hier aber methodische Fortschritte, weil die Lebensqualität in der Onkologie immer wichtiger wird, je mehr Krebs zu einer chronischen Krankheit wird.“

Beratungen im Vorfeld sollten verbindlich sein

Ebenso wie das BfArM bietet der G-BA Pharmaunternehmen an, sich bereits vor Beginn aufwändiger klinischer Studien mit ihm abzustimmen. Allerdings wünschen sich Pharmaunternehmen eine höhere Verbindlichkeit. „Wir machen immer häufiger die Erfahrung, dass Zulassungsstudien vom G-BA nicht anerkannt werden“, beklagte Dr. Christoph von der Goltz (Boehringer Ingelheim). Grundsätzlich seien die Abstimmungsgespräche schon verbindlich, entgegnete Oppermann, es sei denn, an der Evidenz habe sich etwas geändert. Selbst wenn kein Zusatznutzen festgestellt werde, gab Tom Bschor zu bedenken, sei das Medikament ja trotzdem wirksam und angemessen zu vergüten. „Die Kostenschere muss von beiden Seiten geschlossen werden.“ Es dürfe nicht sein, dass für neue Krebstherapien bis zu sechsstellige Jahreskosten aufgerufen, neue wirksame Psychopharmaka dagegen fast verramscht würden. Diese Schere zu schließen sei sicher sinnvoll, wenn es um die großen und häufigen Volkskrankheiten gehe, sagte Prof. Dr. Jochen Maas (House of Pharma & Healthcare), nicht aber bei seltenen Erkrankungen, bei denen für wenige Patienten äußerst effektive Therapien teuer entwickelt worden seien.

Ein Vorschlag zur Beschleunigung klinischer Studien

Randomisierte doppelblinde zwei- oder mehrarmige Studien sind der Goldstandard für klinische Studien – ein Standard, dessen Aufwand jedoch hoch ist. Bei Arzneimittelentwicklungen während der Pandemie erwiesen sich sogenannte Plattformstudien als eine erfolgreiche Alternative. Es sei höchste Zeit, diesen Ansatz auch für die Entwicklung neuer Psychopharmaka anzuwenden, schlug Prof. Dr. Christian Otte (DGPPN und Deutsches Zentrum für psychische Gesundheit) vor. Plattformstudien zeichnen sich dadurch aus, dass eine Anzahl verschiedener Arzneimittelkandidaten gegen ein und denselben Kontrollarm getestet wird. Will man also beispielsweise fünf Kandidaten prüfen, braucht man dafür nur sechs statt wie üblich zehn Studienarme. Das erfordert hohe statistische Kompetenz. Auch dauert eine Plattformstudie mit fünf Kandidaten länger als eine Einzelstudie mit einem Kandidaten. Insgesamt beschleunigt das Verfahren aber nicht nur die Generierung von Ergebnissen, sondern macht diese auch aussagekräftiger. Weil es nur einen Kontrollarm gibt, gegen den jedes der fünf Präparate entweder gut performen oder scheitern kann, sind diese fünf Präparate besser direkt miteinander vergleichbar, als wenn jedes Präparat einen anderen Kontrollarm gehabt hätte. Und wenn es fünf Verumarme und einen Kontrollarm gibt, dann profitieren deutlich mehr Patienten davon, einer Verumgruppe zugeteilt zu werden. Plattformstudien, darin waren sich die Teilnehmer des Runden Tisches einig, könnten dazu beitragen, die vielfach unerfüllten medizinischen Bedürfnisse (unmet medical needs) psychiatrischer Patienten schneller zu erfüllen, insbesondere wenn sie effizient in die Versorgung integriert werden können.

Die Bedeutung menschlicher Zuwendung

Waltraud Rinke wies als Betroffene darauf hin, dass der wesentliche unmet medical need „die Interaktion, die zeitnahe Therapie, die persönliche Beschäftigung mit dem kranken Menschen sei“. Sie sei zornig darüber, wie die Gesellschaft mit der Erkrankung Depression umgehe. „Sie stellt die Betroffenen in eine Schmuddelecke, als seien sie Simulanten. Niemand käme auf die Idee, mit Schlaganfallpatienten ähnlich umzugehen.“ Hoffnungsträger in der Arzneimittelentwicklung seien für sie beispielsweise, sagte Rinke, die Psychedelika, die derzeit auf ihr antidepressives Potenzial hin geprüft werden. Diese Hoffnung teilte sie mit den anwesenden Experten. DGPPN-Präsident Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg bekräftigte, wie hoch in seinem Fachgebiet nicht nur der Bedarf an nebenwirkungsarmen und effektiven Medikamenten sei, sondern auch ein kontinuierlicher Dialog zwischen Behörden, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Patientenvertretern. „Wir nehmen von hier neue Impulse und Perspektiven zur Förderung der Psychopharmakologie mit.“

 

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