Zwischen medizinischem Nutzen und Persönlichkeitsrechten

Diskussion über Herausforderungen des Digitale-Versorgung-Gesetzes

„Die Nutzung von Patientendaten wird extrem notwendig sein, damit die Medizin vorankommt“, sagte Dr. Markus Leyck Dieken. Er fungiert als Geschäftsführer der gematik GmbH, die derzeit durch den Aufbau einer bundesweiten Telematikinfrastruktur nach eigenen Angaben „die Weichen für den Weg des deutschen Gesundheitswesens in die digitale Zukunft“ stellt. Grundsätzlich war sich Leyck Dieken in diesem Befund mit seinen beiden Mitdiskutanten Prof. Peter Liggesmeyer (Fraunhofer IESE) und Dr. Hendrik von Büren (AbbVie Deutschland) zwar einig. Dennoch zeigten sich zwischen den dreien während der Podiumsdiskussion über die „Nutzbarmachung medizinischer Daten“ bei der 10. Jahrestagung des House of Pharma & Healthcare bemerkenswerte Differenzen.

 

Telematik: Strafbewehrte Aufholjagd

Im Mittelpunkt der von ZEIT-Redakteurin Katharina Menne moderierten Diskussion standen die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) und der Aufbau des vom Bundesgesundheitsministerium geplanten Forschungsdatenzentrums. Beide sind Bestandteile des im Dezember 2019 in Kraft getretenen Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG). Es sieht empfindliche Geldstrafen für diejenigen niedergelassenen Ärzte vor, die sich nicht der Telematik-Infrastruktur anschließen, und droht auch zögernden Krankenkassen Sanktionen an. „Es ist bedauerlich, dass wir zu solchen Instrumenten greifen müssen“, sagte Leyck Dieken. „Das hat sehr viel damit zu tun, dass Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens in Europa nur auf Platz 19 liegt. Wir haben 15 Jahre debattiert und es ist nichts passiert.“ Sicherheitsbedenken seien unbegründet: „Gemeinsam mit Datenschutzbeauftragen und dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik schaffen wir Systeme, denen die Bürger vertrauen können.“ Was die Telematik zu leisten imstande sei, habe eben erst der Versand von mehr als 90 Millionen digitalen Impfnachweisen gezeigt. Der Paragraph 363 des SGB V berechtige jeden Patienten, seine Daten sehr gezielt zu Behandlungs- oder Forschungszwecken freizugeben.

 

Kein digitales Entwicklungsland

Deutschland müsse sich durchaus nicht als digitales Entwicklungsland verstehen, entgegnete Peter Liggesmeyer. Eine kritische Abwägung zwischen medizinischem Nutzen und Persönlichkeitsrechten, wie sie hierzulande in einem intensiven Diskurs vorgenommen werde, sei vielmehr positiv zu bewerten, „weil sie uns die Chance gibt, über eine gute Lösung nachzudenken und diese dann einzuführen.“ Die gesetzlichen Rahmenbedingungen seien für eine solche Lösung noch nicht ausreichend, die angebotenen Technologien noch nicht nutzerfreundlich genug. „Ein gewisses Bauchgrimmen, weil man nicht weiß, was mit den Daten alles passiert“ sei bei vielen Menschen vorherrschend. „Wir müssen die Patienten daher in die Lage versetzen, die Nutzung ihrer Daten zu kontrollieren und nicht nur den Zugriff darauf.“ Eine Anreicherung von Datenzugriffsschutz durch Datennutzungskontrolle könnte sich im Wettbewerb um die patientenfreundlichste Lösung als Alleinstellungsmerkmal erweisen: „Viel mehr Menschen wären bereit, ihre Daten für pharmazeutische Forschung zur Verfügung zu stellen, wenn sie wüssten, dass sie nur dem definierten Zweck dienen.“

 

Unverständnis über Benachteiligung der Industrie

Für Pharmaunternehmen seien Patientendaten tatsächlich ein „Goldschatz, weil man mit ihnen bewerten kann, wie man welche Krankheiten angehen kann“, sagte Hendrik von Büren.  Das im DVG geplante Forschungsdatenzentrum sei ein Schritt in die richtige Richtung. Dieses Datenzentrum soll künftig beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelt sein. Gespeist werden soll es aus Patientendaten, welche die Krankenkassen anonymisiert über den GKV-Spitzenverband an das BfArM weiterleiten. Dieses Datenzentrum gelte es materiell wie personell „top auszustatten“, sagte von Büren, „sonst wird es nicht funktionieren“. Nach der bisherigen Planung soll das Zentrum, dessen Hauptzweck es ist, die Versorgungsforschung zu stärken, auf Anfrage zwar akademische Forschungsgruppen mit Datensätzen beliefern dürfen, nicht jedoch Forschende aus der Industrie. „Wenn man sieht, dass die meisten Medikamente von der Industrie entwickelt werden, ist das völlig unverständlich“, monierte von Büren. „Für die klinische Entwicklung neuer Medikamente ist der Zugriff auf diese Daten sehr wichtig.“ Denn erst größere Datenmengen eröffneten, selbst wenn sie retrospektiven Charakter hätten, den Blick auf Muster, die vorher nicht auffällig gewesen seien.

 

Auf den Kontext kommt es an

Man müsse schon einen Unterschied machen zwischen den großen Datenmengen, die anfallen, und dem was wirklich nutzbringend verwendet werden könne, erinnerte Peter Liggesmeyer. „Nicht alle Daten enthalten Informationen. Auch nützen sie oft gar nichts, wenn ich ihren Kontext nicht kenne.“ Das Datum 38,5 Grad sei beispielsweise kontextlos unbrauchbar. Besonders wichtig sei es, dass Daten richtig, also zum Beispiel aktuell seien. „Das spricht gegen das Sammeln an zentraler Stelle.“ Denn wer könne dort zuverlässig Aktualisierungen vornehmen, wenn sich das irgendwo lokal vorliegende Original verändere? Und wer könne dort eine möglichst redundanzfreie Speicherung garantieren, wenn die Daten mit unterschiedlichen Eigenschaften aus unterschiedlichen Quellen eintreffen? Optimistisch zeigte sich diesbezüglich der Gematik-Chef. Man arbeite intensiv an der Realisierung strukturierter Datenfelder. „Die deutschen Labormediziner haben sich im vergangenen Jahr endlich auf einen gemeinsamen technischen Berichtsstandard geeinigt“, sagte Leyck Dieken. „Das ermöglicht es den Menschen, sehr bewusst zu entscheiden, welche Labordaten sie zu welchem Zweck weiterleiten.“ Mit anderen medizinischen Fachgesellschaften versuche man derzeit, ähnliche Übereinkünfte zu erzielen.

 

Wenn die ePA von 2022 an flankiert von einer breiten Kommunikationskampagne Schritt für Schritt eingeführt werde, werde sie den Patienten differenzierte Steuerungsmöglichkeiten des Zugriffs darauf bieten, sowohl bezüglich der Ärzte, die bestimmte Dokumente einsehen dürfen, als auch hinsichtlich des Zeitraums, in dem dies geschehen könne. „Sie erhalten zudem ein Protokoll darüber, welches Dokument welcher Arzt geöffnet hat.“ Niemand habe ein Interesse daran, „Hunderte von privaten Dokumenten daraufhin durchzugehen, wer darauf in welcher Form zugreifen darf“, warnte Peter Liggesmeyer jedoch vor einer zu geringen Nutzerfreundlichkeit der ePA. „Die Digitalisierung ist in keiner Branche Selbstzweck. Wenn sie in der Medizin gut funktionieren soll, muss sie vom Patienten aus gedacht werden, nur dann werden sich digitale Lösungen durchsetzen.“

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