Eine moderne Gesellschaft hat kein Zentrum. Sie ist in vielerlei Funktionssysteme ausdifferenziert, deren Akteure die Wirklichkeit jeweils anders wahrnehmen und bearbeiten. Ökonomen haben primär den Ausgleich von Knappheit im Blick, PolitikerInnen das Aushandeln kollektiv bindender Entscheidungen, Ärzte und Ärztinnen die Gesundheit ihrer Patienten, WissenschaftlerInnen die Ermittlung zutreffender Aussagen, Vergleichbares gilt für Funktionen in der Justiz, der Familie, den Medien, dem Bildungssektor, den Kirchen und anderen Gesellschaftssektoren. Zielkonflikte sind die natürliche Folge solcher Perspektivendifferenzen. In Krisenzeiten verschärfen sie sich. „Die Pandemiekrise ist dadurch geprägt, dass es keine Krisendefinition aus einem Guss gibt“, sagte der Münchner Soziologe Professor Armin Nassehi in einem Online-Vortrag im Rahmen der vom House of Pharma & Healthcare und der Stiftung Arzneimittelsicherheit angebotenen Veranstaltungsreihe zur Impfstoffsicherheit. Die Pandemie insgesamt und speziell die Diskussion um eine Impfpflicht erweise sich daher als eine Parabel auf die Steuerbarkeit moderner Gesellschaften. Deren Kernfrage lautet: Kann man Menschen dazu bringen, selbst etwas tun zu wollen, was sie aus einem allgemein begründeten Interesse heraus tun sollten?
Pest oder Pocken?
Als Soziologe sei es nicht seine Aufgabe, in dem Streit um eine Impfpflicht politisch Stellung zu beziehen, sagte Nassehi. Vielmehr gehe es ihm darum, einige Schlaglichter seiner Wissenschaft auf die Themen „Impfrecht – Impfpflicht – Impfbereitschaft“ zu werfen. Zweifelsohne handele es sich bei allen Pandemien, wie sie die Menschheit seit Jahrhunderten immer wieder heimsuchten, nämlich um gesellschaftliche Phänome, deren Bekämpfung nicht nur eine medizinische Aufgabe sei, sondern vor allem darin bestehe, gesellschaftliche Praktiken zu verändern, um die Ausbreitung der jeweiligen Krankheitserreger zu unterbinden. Bezug nehmend auf den französischen Philosophen Michel Foucault unterschied Nassehi dabei zwischen zwei historisch verbürgten Typen der Pandemiebewältung. Die Methode der Pestquarantäne versucht, das Todbringende aus der Gesellschaft auszugrenzen. Sie legt es auf Ausmerzung des Erregers durch Isolierung der Kranken an. Sie spiegelt sich in den verschiedenen Lockdown-Varianten während der Coronakrise wider. Die Methode der Pockendisziplinierung versucht, das Leben zu schützen und die Menschen dazu zu bringen, „es selbst so zu führen, dass die Dinge besser werden“. Sie setzt auf regulatorisch unterfütterte Aufklärungskampagnen. Die Impfung ist gewissermaßen das Symbol dieser disziplinierten Selbstverantwortung. „Seit es Impfungen gibt, gibt es die Frage danach, ob man sich impfen lassen soll oder nicht“, sagte Nassehi. „Seitdem wird auf die Disziplin der zu Impfenden geachtet, aber dieser Diskurs ist außerordentlich schwierig.“
Rationale Argumente reichen nicht aus
Denn dieser Diskurs ist von Angst durchtränkt. Nassehi zitierte eine aktuelle Umfrage, in der 70 Prozent der bisher Ungeimpften angaben: „Ich habe Angst, mich gegen Covid-19 impfen zu lassen.“ Dem entspricht das Ergebnis einer anderen Umfrage, wonach 80 Prozent der bisher Ungeimpften auch nach Einführung einer Impfpflicht eine Impfung verweigern würden. Mit rationalen Argumenten könnten diese Menschen kaum erreicht werden, „sondern man müsste gegen Angst arbeiten und das wiederum produziert sehr oft Angst“. Es sei bekannt, dass dort, wo irrationale Ängste herrschten, Sachinformationen oft so gewertet würden, als ob die Eliten einen damit nur hinters Licht führen wollten. Professionelle Werbekampagnen für das Impfen könnten da mehr ausrichten. Diesbezüglich gebe es in Deutschland Nachholbedarf.
Bildung schützt vor Ängsten nicht
Geschichtlich seien die angesprochenen Ängste gut zu verstehen. Sie wurzelten tief im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft, dessen Inhalte weit über unser Bewusstsein hinaus wirksam seien und in bestimmten Situationen wiederkehrten. Schon die Anfang des 18. Jahrhunderts aus Asien importierte Variolation, bei der gesunde Menschen aus den Pocken kranker Menschen immunisiert worden seien, habe dem im kollektiven Gedächtnis verankerten Imperativ widersprochen, den Kontakt zu Kranken zu meiden. Die von Edward Jenner 1796 auf Basis empirischer Wissenschaft eingeführte Vakzination habe dann ein Mensch-Tier-Kontinuum hergestellt, dem ein Arzt wie der Kant-Schüler Marcus Herz im Namen der Aufklärung mit dem Argument entgegengetreten sei: Wenn der Mensch ein mit Vernunft ausgestattetes Subjekt ist, dann kann die Übertragung tierischen Materials ihn nicht vor Krankheit schützen. „Die Aufklärung, die wir gerne als Anfang des wissenschaftlichen Denkens sehen, hat mit ihrer Idee des menschlichen Subjekts gegen die medizinisch-wissenschaftlichen Experimente gearbeitet“, verdeutlichte Nassehi. Dieser Konflikt habe dazu geführt, „dass Bildung keineswegs vor irrationalen Ängsten vor der Impfung schützt“. Zusätzlich zu dieser um 1800 entstandenen Frontstellung zwischen philosophischer Deduktion und naturwissenschaftlichem Experiment habe sich dann um 1900 im gebildeten Bürgertum Westeuropas eine Impfskepsis ausgebildet, deren „medikale Dissidenz“ sich aus esoterischem, romantischem und anthroposophischem Gedankengut gespeist habe. Die Impfskepsis des Jahres 2022 sei eine Kombination aus diesen Faktoren.
Zwang löst keine kollektiven Fragen
Frage man sich vor diesem Hintergrund, unter welchen Bedingungen es möglich ist, Menschen, die Angst vor der Impfung haben, dazu zu bringen, diese Angst zu überwinden, dann werde einem schnell klar: „Mit Zwang geht das nicht.“ Im Sinne des von Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen formulierten liberalen Paradoxons könne man nämlich von Menschen nur das verlangen, was sie mit eigenen Entscheidungsmöglichkeiten auch erreichen könnten. Somit stelle sich die Frage nach der Durchsetzbarkeit einer Impfpflicht im politischen Raum unabhängig von der Frage, ob man selbst eine solche Pflicht befürworte oder nicht. Wenn man Macht als die Chance definiere, einem anderen gegenüber auch gegen dessen Willen den eigenen Willen durchzusetzen, dann müsse man sich bewusst sein, dass sich politische Macht in einer Demokratie von allen anderen Machtformen dadurch unterscheide, dass sie an einen Machtkreislauf gebunden sei: „Die Regierung muss Macht ausüben über die Gesellschaft, aber diejenigen, über die Macht ausgeübt wird, müssen denjenigen, die diese Macht haben, diese Macht zurückgeben – spätestens bei der nächsten Wahl.“ Zwar dürfe der Staat hart durchgreifen wenn etwa gegen sein Gewaltmonopol verstoßen oder sein Steuerbescheid nicht bezahlt werde, aber „Zwang auszuüben, um kollektive Fragen zu lösen, das muss man vermeiden in der Demokratie“.
Die Ohnmacht der Mächtigen
Selbst wer die Richtlinienkompetenz für die Regierungspolitik habe, verfüge nicht immer über die Macht, das als sinnvoll oder notwendig Erkannte durchzusetzen, berichtete Nassehi aus eigener Beratungserfahrung. Ein besonderes Problem sieht er in der Gegenwartsorientierung der Politik. „In den Sommern 2020 und 2021, als die Inzidenzen sehr niedrig waren, hat sich kaum ein Akteur getraut zu sagen, dass es im Herbst wieder schwierig wird und entsprechende Maßnahmen vorbereitet werden müssen.“ Denn dieses vorausschauende Handeln wäre vom Wahlvolk nicht honoriert worden. „Demokratien haben das Problem, in jeweiligen Gegenwarten Loyalität produzieren zu müssen, so dass sie es sehr schwer schaffen, in Richtung auf langfristige Ziele zu handeln.“
Eine Antwort auf die Kernfrage seiner Parabel lieferte Nassehi nicht. Das war auch nicht sein Anliegen. Mit den Werkzeugen des Soziologen regte er am Beispiel der Debatte über die Impfpflicht zum Nachdenken an über ein Gesellschaftssystem, das so komplex ist, dass man es nicht vollständig beschreiben könnte, selbst wenn man vollständige Informationen über alle seine Teile hätte. Aus der Erfahrung des gefragten Beraters heraus umriss er den Spielraum der Politik: „Kluge Politik muss das Richtige tun. Sie muss aber darauf achten, dass sie das, was sie für richtig hält, auch durchsetzen kann.“