Vom Zusatznutzen teurer Gentherapien

Das deutsche Gesundheitssystem auf der Suche nach tragfähigen Modellen der Kostenerstattung

Gentherapien haben das Potential, schwere Erbkrankheiten zu heilen und damit Leben zu retten. Sie können ein defektes Gen durch ein gesundes Gen ersetzen und damit dessen natürliche und lebensnotwendige Funktion wiederherstellen. So etwa bei der spinalen Muskelatrophie (SMA), einer sehr seltenen genetischen Erkrankung, mit der in Deutschland jedes Jahr etwa 80 Kinder geboren werden, die unbehandelt einem frühen Tod geweiht sind. Die vom Schweizer Pharmaunternehmen Novartis beziehungsweise seiner Tochter AveXis entwickelte und seit Mai 2020 in Europa zugelassene Gentherapie Zolgensma kann diese tödliche Krankheit mit einer einzigen Infusion stoppen. Das hat allerdings seinen Preis: Fast zwei Millionen Euro kostet diese Infusion derzeit noch, was Zolgensma zum teuersten Medikament der Welt macht. Auch herkömmliche, nicht kurative Behandlungsmethoden der SMA summieren sich allerdings auf kumulierte Kosten von 2,5 bis 4 Millionen Euro in den ersten zehn Lebensjahren eines betroffenen Kindes. Daraus ergibt sich generell die Frage, wie der Zusatznutzen von Gentherapien bewertet und wie konsensfähige Kostenerstattungs-Lösungen zwischen allen Partnern im Gesundheitswesen gefunden werden können. Bezogen auf die Situation in Deutschland, adressierte Dr. Andreas Kress, Leiter Market Access, Public Affairs und Key Account Management bei Novartis Pharma in Nürnberg, diese Frage beim virtuellen Fridaytalk im Rahmen der berufsbegleitenden Ausbildung zum Master of Pharmaceutical Business Administration.

Immer mehr potentiell kurative Innovationen

Diese Frage zu beantworten sei auch deshalb so wichtig, betonte Kress, weil einer Umfrage des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller zufolge innerhalb der kommenden vier Jahre mit der Zulassung von 15 neuen Gentherapien zu rechnen sei, fast doppelt so viele wie bisher verfügbar sind. Dabei müsse man aber sorgfältig zwischen unterschiedlichen Formen der Gentherapie differenzieren. So handele es sich bei einer Vielzahl von ihnen nicht um die direkte Infusion gesunder Gene, sondern um die extrakorporale Veränderung patienteneigener T-Zellen im Sinne einer Immuntherapie. Für die meisten Gentherapien gelte jedoch: „Es sind gezielte Therapien für eine jeweils sehr kleine Anzahl von Patienten mit dem Potential zur Heilung.“ Damit zählen die meisten Gentherapien zulassungsrechtlich zu den Orphan Drugs. Das sind Arzneimittel, die sich gegen sehr seltene und lebensbedrohliche oder chronisch behindernde Krankheiten richten, an denen weniger als fünf von 10.000 Menschen leiden, und für die es noch keine ausreichenden Behandlungsmöglichkeiten gibt. Während die Zulassung dieser Orphan Drugs – wie auch aller anderen Arzneimittel – EU-weit einheitlich geregelt ist, folgt bei deren Nutzenbewertung (Health Technology Assessment = HTA) jedes Land seinen eigenen Regeln. Für diese Bewertung, aus der sich die Kostenerstattung ableitet, gilt in Deutschland seit 2011 das Arzneimittelordnungsgesetz (AMNOG).

Re-Assessment of Orphan-Drugs

Das AMNOG verlangt von jedem pharmazeutischen Unternehmen, das eine Arzneimittel-Innovation auf den Markt bringt, dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) ein umfangreiches Dossier über dieses Arzneimittel und dessen Nutzen einzureichen. Normalerweise schaltet der G-BA dann das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) ein, um den Zusatznutzen der Innovation zu bewerten. Auf Basis dieser Bewertung handelt das betreffende Unternehmen mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GSK-SV) den Erstattungsbetrag für diese Innovation aus. Anders ist es bei Orphan Drugs, wie Andreas Kress ausführte. Bei ihnen wird zunächst von vorneherein ein Zusatznutzen angenommen, auch wenn dieser meist als nicht quantifizierbar eingestuft wird. Erst wenn eine Orphan Drug einen Jahresumsatz von 50 Millionen Euro überschreitet, muss deren Hersteller dem G-BA das für Arzneimittelinnovationen übliche Dossier vorlegen. Die Bewertung des Zusatznutzens wird dann direkt vom G-BA und nicht über den Umweg des IQWIG vorgenommen. „Die mündliche Anhörung vor dem G-BA ist für ein Unternehmen ein besonders wichtiges Ereignis.“

Placebo-Arm wäre ethisch nicht vertretbar

Die Schwierigkeit bestehe darin, erläuterte Kress, dass Gentherapien wie auch viele andere Orphan Drugs dem Goldstandard eines normalen AMNOG-Verfahrens in der Regel naturgemäß nicht genügen könnten. Dieser Standard der Nutzenbewertung basiere auf randomisierten, zweiarmigen, doppelt verblindeten klinischen Studien, in denen gegen ein etabliertes Vergleichspräparat geprüft werde. Wegen der geringen Anzahl von Patienten, der Schwere ihrer Erkrankung und dem Fehlen eines Wettbewerbers sei das bei Gentherapien meist nicht möglich. “Es wäre unethisch, einen Placebo-Arm zu haben, in dem die Patienten unbehandelt sterben.” Folglich würden die Daten zu Gentherapien in einarmigen und unverblindeten Studien erhoben. So sei es vermutlich zu erklären, dass vier von 15 Orphans, die vom G-BA nach Überschreiten der Umsatzschwelle neu bewertet werden mussten, unter das Rubrum “kein Zusatznutzen” eingestuft worden seien. Die Lösung dieses Problems, so Kress, könne sowohl nach Auffassung des G-BA als auch der pharmazeutischen Unternehmen nur darin bestehen, anwendungsbegleitend fortlaufend zusätzliche Daten zu erheben, die den Nutzen zum Beispiel einer Gentherapie evident werden lassen.  

Gestaffelte, erfolgsabhängige Bezahlung als Lösung?

Die meisten Gentherapien seien allerdings Einmal-Behandlungen. Das schlage positiv dadurch zu Buche, dass es die Logistik der Darreichung vereinfache, eine hundertprozentige Compliance ermögliche und Folgekosten vermeide. Bedenklich stimme in dieser Hinsicht aber, dass eine solche Gentherapie irreversibel sei, unbekannte Langzeiteffekte habe und außerdem hohe initiale Behandlungskosten auslöse. „Diese Kosten müssen aber nicht zwangsläufig in einer unumkehrbaren Einmalzahlung beglichen werden“, sagte Dr. Kress. Gestaffelte Zahlungen seien, wenn präzise patientenspezifische Meilensteine definiert werden könnten, im Sinne aller Beteiligten. So habe Novartis für Zolgensma international mit einigen Kostenträgern beispielsweise bereits mehrere Verträge über erfolgsabhängige Erstattungsmodelle abgeschlossen, bei denen das Unternehmen das Risiko übernehme, im Nicht-Erfolgsfall bis zu 100 Prozent der Arzneimittelkosten zurückzuzahlen. In der anschließenden Diskussion zeigte sich Andreas Kress optimistisch, dass Unternehmen, Behörden und Kostenträger auch in Deutschland eine tragfähige Lösung finden werden, um Gentherapien den Weg zu Evidenz wie Erschwinglichkeit zu ebnen. Auch wenn die Bemühungen innerhalb des europäischen HTA-Netzwerks prinzipiell begrüßenswert seien, so müsse man sich doch klar sein, dass die Preisverhandlungen selbst nach wie vor im jeweiligen Land stattfänden. Was die weitere Preisentwicklung sowohl von Zolgensma als auch anderer initial hochpreisig angesetzter Therapien betreffe, so halte er den AMNOG-Prozess für gut geeignet, um zu einer akzeptablen Lösung für alle zu kommen.

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