"Systemfehler - Wissensdefizit"

Datenaustausch zwischen Kliniken könnte Behandlungen seltener Krankheiten verbessern

Rund 8000 Krankheiten gelten in Europa als „selten“ – das heißt, dass höchstens fünf von 10.000 Menschen daran leiden. Für sie Medikamente zu entwickeln, ist in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung: Über Entstehung und Verlauf ist wenig bekannt, für Studien gibt es nur wenige Patienten, und das Umsatzpotential ist begrenzt. Mit dieser diffizilen Lage beschäftigte sich der von AbbVie Deutschland organisierte Workshop „Bridging the Gap: Herausforderung für Orphan Drugs in der Entwicklung und der Versorgung.“

Als großes Hindernis bei der Erforschung und Bekämpfung seltener Krankheiten stellte Professor Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Gießen und Marburg, den „Systemfehler Wissensdefizit“ heraus. „Wir haben viel zu wenig Einblick in Patientendaten aus anderen Zentren – dabei wäre das gerade bei Krebspatienten enorm wichtig.“ Immer wieder gebe es Patienten, die über etliche Jahre in verschiedenen Kliniken betreut würden. Ohne Zugriff auf die gesamten Behandlungsdaten sei es kaum möglich, Muster zu erkennen und Behandlungsstrategien zu entwickeln. „Die meisten Daten liegen bei den Krankenkassen – und die sind momentan gezwungen, sie nach fünf Jahren zu vernichten.“ Dabei höre er als Mediziner von todkranken Patienten immer wieder: „Ich brauche vor allem eine schnelle Behandlung – Datenschutz kann ich mir nicht erlauben.“ Dem pflichtete Dr. Johannes Bruns, Generalsekretär der Deutschen Krebsgesellschaft, bei: „Wir hatten beim Aufbau unseres Krebsregisters auch noch nie einen Patienten, der seine Daten nicht herausgeben wollte.“

Zur Diskussion stellte Moderator Rüdiger Rein (Abbvie Deutschland), die Frage, ob die wohnortnahe Versorgung von Patienten mit seltenen Krankheiten dadurch gefährdet sei, dass nur spezielle Ärzte „Orphan Drugs“ verordnen dürften. Schäfer hielt diese Regelung durchaus für angemessen, „denn es handelt sich ja um spezielle, hochwertige und auch extrem teure Medikamente, deren Wirkung akribisch überwacht werden muss.“ Bruns verglich das Procedere mit einer „Flugscheinregelung“: Nicht jeder Arzt sei für den Umgang mit „Orphan Drugs“ automatisch qualifiziert. Sei der Patient allerdings einmal auf das Medikament eingestellt, müsse es möglich sein, auf eine qualifizierte wohnortnahe Versorgung abseits des medizinischen Fachzentrums umzustellen.

 

Randomisierte Studien oft kaum möglich

Auf die besondere Herausforderung der Evidenzgenerierung bei der Erforschung und Entwicklung von Orphan Drugs wies Dr. Sabine Sydow (vfa bio) hin. Ihnen werde deutlich häufiger als herkömmlichen Medikamenten nur ein nicht quantifizierbarer Zusatznutzen bescheinigt. Grund dafür sei, dass sowohl die Dossiervorlage für die Zusatznutzenbewertung als auch das Methodenpapier des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) von randomisierten kontrollierten Studien als Bewertungsgrundlage ausgehen. „Studien in diesem Design sind jedoch für seltene Erkrankungen aufgrund ethischer Gesichtspunkte und auch der geringen Patientenzahlen oftmals nur schwer oder gar nicht durchführbar.“ Entsprechend müsse das IQWiG das Prinzip der bestmöglichen Evidenz anerkennen.

Einig waren sich Experten und Workshop-Teilnehmer in dem Ziel, die Bildung weiterer anerkannter medizinischer Fachzentren für Patienten mit seltenen Erkrankungen weiter voranzubringen und die Grundlagenforschung stärker zu fördern.

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