„Stellen Sie sich vor, China hätte zuerst einen Impfstoff gehabt…“

Jens Spahn fordert bei der 12. Jahrestagung des House of Pharma & Healthcare mehr Respekt für die Wertschöpfung der Gesundheitswirtschaft

Die Arbeit des eigenen Nachfolgers zu kommentieren, das sei für einen vormaligen Amtsinhaber generell unangebracht, sagte der frühere Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bei der 12. Jahrestagung des House of Pharma & Healthcare im Podiumsgespräch mit ZEIT-Redakteur Jan Schweitzer. Aus diesem Grund habe er sich in dieser Legislaturperiode als stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion anderen Themen als der Gesundheitspolitik zugewandt und erscheine nur noch ausnahmsweise auf „Gesundheitsveranstaltungen wie dieser“. Aus der Perspektive des Wirtschafts- und Finanzfachmannes – von 2015 bis 2018 fungierte er als parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium – riet er der Ampelkoalition dennoch dringend dazu, die Gesundheitswirtschaft nicht zu vernachlässigen. Die Politik müsse moderne Technologien wie etwa Gen- und Zelltherapien entschlossener fördern sowie die Potenziale der Auswertung großer Datenmengen und der Künstlichen Intelligenz mutiger erschließen. Vor allem aber müsse sie nicht nur erkennen, welche zunehmende Bedeutung der Pharmaindustrie für den Standort Deutschland zukomme, sondern auch danach handeln. Nicht allein, weil deren Innovationskraft für den Wohlstand eines rohstoffarmen Landes wesentlich sei. Sondern auch, weil die Pharmaindustrie bei ähnlich hoher Wertschöpfungstiefe weit weniger energieintensiv sei als die Chemiebranche. „Wenn wir überlegen, welcher Industriestandort wir sein können und wollen in Zeiten, in denen die Energiepreise nicht wieder so sein werden wie vor dem Krieg, dann sollten wir eine solche Industrie mit so vielen Beschäftigten doch fördern und zumindest nicht mit Rabatten aus dem Land treiben.“


Die Souveränität des Pharmastandorts wahren

Eine leistungsfähige und wettbewerbsfähige Biotechnologie- und Pharmaindustrie seien für die Souveränität des Standorts Deutschland unabdingbar, sagte Spahn. „Stellen Sie sich mal eine Welt vor, in der China zuerst einen Impfstoff gehabt hätte und wir in Beijing darum hätten betteln müssen. Das wäre keine gute Welt gewesen.“ Wie schnell Lieferketten aus Fernost reißen können, habe sich während der Pandemie nicht nur bei Arzneimittelwirkstoffen, sondern beispielsweise auch bei Halbleiterchips gezeigt. Käme es zu einem Konflikt zwischen China und Taiwan, dann würden die Importquellen dafür möglicherweise ganz versiegen. „Die Ansiedlung von Chipherstellern in Deutschland mit Milliardenbeträgen zu unterstützen, ist deshalb keine Wirtschaftspolitik, sondern Souveränitätspolitik.“ Souveränität gelte es freilich nicht nur gegenüber China zu wahren. Spahn erinnerte daran, dass in den beiden Jahrzehnten nach der Zeitenwende von 1989 alle großen Wirtschaftsmächte darin übereingestimmt hätten, dass eine arbeitsteilig miteinander vernetzte und grenzübergreifend miteinander Handel treibende Welt der Wohlfahrt aller Nationen diene. Das war die Zeit, in der auch China der Welthandelsorganisation beitrat. „Dann haben die USA und China in den 2010er Jahren aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Instrumenten angefangen, diese arbeitsteilige Welt in Frage zu stellen.“  Als Beispiel nannte Spahn protektionistische Maßnahmen in der Aluminium- und Solarindustrie. Während der Pandemie sei dieser Protektionismus dann noch extremer hervorgetreten.


Keine Milliarden für Massenproduktion

Als rohstoffarme Exportnation mit einem kleinen Binnenmarkt sei Deutschland gut beraten, sich weiterhin für eine arbeitsteilig vernetzte Welt stark zu machen, in der es auf seine Innovationskraft setzen könne. Daraus folge, dass es keinen Sinn habe, Milliarden auszugeben, um Massenproduktionen nach Deutschland oder Europa zurückzuholen, egal ob es sich um die von Solarzellen oder Arzneimittelwirkstoffen handele. „Das Geld sollten wir besser in die Erforschung und Entwicklung innovativer Therapien investieren.“ Zur Stabilisierung der Lieferketten von Arzneimittelwirkstoffen reiche es vermutlich aus, die entsprechenden Handelsbeziehungen breit genug zu diversifizieren, um nicht von wenigen Lieferanten abhängig zu sein. Einen „kleinen Exkurs“ erlaubte sich Spahn an dieser Stelle zu der Frage, warum die Preise generischer Arzneimittel so gering sind und deren Produktion in Deutschland nicht mehr rentabel ist. „Warum zahlen wir hierzulande so viel mehr für Generika als anderswo?“ sei in den 2000er Jahren die Ausgangsfrage gewesen, die zur Ausschreibung von Rabattverträgen geführt habe. „Wir haben damit gerechnet, dass wir maximal 30 Prozent Rabatt bekommen“, sagte Spahn. „Tatsächlich haben einige Unternehmen Rabatte von fast 100 Prozent angeboten.“ Im Bemühen, sich Marktanteile zu sichern, hätten sie also die Preise selbst auf Centbeträge runtergeprügelt. „Im Nachhinein muss man feststellen, dass man die Lemminge besser vor sich selbst hätte schützen sollen.“

 

Wachstumspakt gegen Wohlstandsverlust

Spahn gab zu bedenken, dass Deutschland sich gegenwärtig in einer Situation befinde, in der „es als Standort nach hinten durchgereicht werde“. Die Menschen erlebten mit einer real schrumpfenden Wirtschaft in einer polarisierten Gesellschaft „einen Wohlstandsverlust, wie wir ihn selten hatten“. Sich auf die eigenen Stärken zu besinnen und diejenigen Industrien zu fördern, die in der Lage sind, Ideen in wertschöpfende Innovationen zu verwandeln, ist notwendig, um diese Situation zu überwinden. Dazu gehört die pharmazeutische Industrie. Die Tatsache, dass der erste mRNA-Impfstoff aus Deutschland stammte, hat das eindrücklich bewiesen. Die Tugend der unbürokratischen Zusammenarbeit, die sich dabei zeigte, scheint aber schon wieder verblasst. „Wenn die Bürokratie zurückkommt, ist die Krise vorbei“, beschrieb Spahn die Ernüchterung nach dem Welterfolg der Impfstoffentwicklung, die in Mainz ihren Ursprung nahm. Der CDU-Politiker forderte einen Wachstumspakt für den Wirtschaftsstandort: „Steuern runter für Investitionen, Industriestrompreis einführen, Lieferkettengesetz aussetzen, in Brüssel mal drei Jahre lang alles liegen lassen“. Dafür erhielt er Zwischenapplaus aus dem Auditorium. „Ich weiß von großen Pharmaunternehmen, die bereit wären, in Deutschland vier bis fünf Milliarden zu investieren, aber davor zurückschrecken bei den Signalen, die sie von dort gesendet bekommen.“ Er erlebe derzeit eine große Sprachlosigkeit zwischen Akteuren, die doch Partner sein könnten, sagte Spahn. Er habe als Gesundheitsminister zwar den von seinem Vorgänger initiierten Pharma-Dialog abgeschafft, weil es am Ende ein Format gewesen sei, wo jeder nur noch von seinem mitgebrachten Sprechzettel abgelesen habe. „So was mag ich nicht, das bringt nichts, außer dass wir uns alle mal gesehen haben.“ Zielführender sei es, ein akut wichtiges Thema zu benennen und es mit den richtigen Leuten lösungsorientiert zu besprechen. Die Frage, mit welchen Maßnahmen man die Gesundheitswirtschaft im Land halten und dort zu neuer Prosperität führen könne, sei ein solches Thema, für das es sich lohne, ein neues Gesprächsformat zu begründen.


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