Radiologie 2.0: Piloten der Bildgebung

DKFZ-Experte sprach über Chancen von KI-Anwendungen für die Medizin

Wie eine gewaltige Welle, die sich immer höher auftürmt und beschleunigt, von vielen in ihrer Wucht aber noch nicht ausreichend wahrgenommen wird, rolle die Künstliche Intelligenz (KI) auf uns Menschen zu, sagte Professor Heinz-Peter Schlemmer. Sie werde voraussichtlich 60 Prozent aller Jobs in den Industrienationen erfassen. Die Hälfte davon werde verschwinden, die andere Hälfte profitieren. Besonders akademische Berufe würden davon getroffen werden, sagte der Direktor der Abteilung Radiologie des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg. Entlarve die KI doch vor allem kognitive Leistungen als maschinell nachvollziehbar und damit ersetzbar. Die Annahme, dass KI auch den Beruf des Radiologen überflüssig machen würde, sei allerdings eine Mär, sagte Schlemmer in einer Online-Veranstaltung, die das House of Pharma und Healthcare zusammen mit der Stiftung für Arzneimittelsicherheit organisiert hatte. Den Radiologen der Zukunft dürfe man vielmehr mit einem modernen Piloten vergleichen, der ein Flugzeug steuert, das prinzipiell automatisch fliegen kann, aber auf menschliche Expertise, Kommunikation und Verantwortung angewiesen bleibt, um sein Ziel zur Zufriedenheit der Passagiere sicher zu erreichen, sagte Schlemmer in seinem Vortrag über „Chancen von KI-Anwendungen in der Onkologie“.

Ökonomisierung statt Revolution

Mit der Erfindung der Computertomographie (CT) Anfang der 1970er Jahre sei die Radiologie zur „digitalen Vorreiterdisziplin“ der Medizin geworden, erklärte Schlemmer. „Röntgenstrahlen wurden nicht mehr auf einen Röntgenfilm projiziert, sondern digital in einem elektronischen Sensor als Stromstärke erfasst – ein Verfahren, das eine Bilddarstellung nur über mathematische Rekonstruktionen mit Computern möglich macht.“ Später verstärkten die Erfindung der Magnetresonanztomographie (MRT) und anderer rechnergestützter Verfahren diese Vorreiterrolle und verschoben die Auflösungskraft radiologischer Aufnahmen zu immer größerer Genauigkeit. Je weiter die digitale Bildgebung sich den Grenzen des Wahrnehmbaren näherte, desto mehr rückte seit den 2010er Jahren die digitale Bildanalyse in den Vordergrund. Bereits lange vor der öffentlichen Premiere generativer künstlicher Intelligenz im Herbst 2022 wurden Computer mit ihren Algorithmen dazu verwendet, um radiologische Bilder nachzuverarbeiten und Befunde zu erstellen. Die maschinellen Fähigkeiten haben sich rasch weiterentwickelt und deren Bedeutung sich seither nicht mehr hoch genug einschätzen lässt. Allerdings nicht im Sinne einer Revolution, sondern eines Effizienzgewinns, wie Schlemmer betonte. „Die KI revolutioniert nicht, sie ökonomisiert. Sie erlaubt uns, komplexe Abläufe, die früher nur von Spezialisten zeitaufwändig durchgeführt werden konnten, in Zukunft von weniger ausgebildeten Kräften in kürzerer Zeit vornehmen zu lassen.“ Diese Ökonomisierung betreffe übrigens nicht nur die Radiologie, sondern alle medizinischen Fächer, die mit Bildern arbeiten, und zwar nicht nur radiologischen, von der Augenheilkunde über die Dermatologie bis hin zur Pathologie. Letztere erfahre gerade eine kaum glaubliche Umwälzung: „Ein Pathologe kann in einem Gewebeschnitt niemals jede einzelne Zelle anschauen, aber der KI fällt das ganz leicht. Sie kann jede einzelne Zelle eines Präparates analysieren.“

Zwischen Administration und Data Science

Im ärztlichen Alltag wird die KI aber derzeit in erster Linie für administrative Aufgaben eingesetzt. Einer Erhebung der American Medical Association zufolge nutzen zwei Drittel der Ärzte in den USA Verfahren der künstlichen Intelligenz für Zwecke der Dokumentation, Abrechnung, Diagnosehilfe und Übersetzung. In Deutschland ermittelten Bitkom und Hartmannbund einen entsprechenden Anteil von 40 Prozent, wobei Praxen niedergelassener Ärzte mit nur 15 Prozent zu Buche schlagen. „Die Erwartungen, die die KI weckt, sind momentan viel größer als die tatsächlichen Anwendungen in der täglichen Routine“, kommentierte Schlemmer. „Möglicherweise wird sich das sehr schnell ändern.“ Hinsichtlich der Bildgebung gelte das besonders im Bereich der Onkologie. Denn in der Onkologie spielt die Frage des „Wo?“ eines Tumors und seiner Absiedlungen eine zentrale Rolle für die Diagnostik wie Therapie. Zusammen mit vielen anderen diagnostischen Parametern beruhen die Therapieentscheidungen eines multidisziplinären Tumor Boards darauf. Dessen Spezialisten entscheiden über das diagnostische und therapeutische Vorgehen. Deren Befunde erreichen wiederum das Board, das seine ursprüngliche Entscheidung überprüft und weiterführt – und so fort. „Es ist ein extrem datenintensives System. Man könnte die moderne Onkologie als Data Science bezeichnen.“ Aus diesem Grund werde an KI-Systemen gearbeitet, die die komplexe Information aus Klinik, Bildern und Labor prägnant zusammenfassen, interpretieren und daraus Handlungsempfehlungen generieren.

Präzision im Sinne der Patienten

Professor Schlemmer erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass die Notwendigkeit für hochqualitative Bildgebung in der Onkologie enorm angestiegen ist. „Für die Planung und das Monitoring personalisierter Therapien brauchen wir immer mehr bildgebende Verfahren.“ Nicht nur halte die Zahl der Radiologen aber mit diesem wachsenden Bedarf nicht Schritt. Auch für jeden einzelnen Radiologen bedeute es einen immer größeren kognitiven Aufwand, die Bildinterpretation im klinischen Gesamtkontext schriftliche festzuhalten (also in Form von Arztbriefen), die dann wiederum von anderen gelesen werden, um die Befunde in den Bildern wiederzuerkennen. „Die Daten werden einstweilen in einer Geschwindigkeit erzeugt, dass wir gar nicht mehr hinterherkommen.“ Insofern werde es im Sinne der Patienten die medizinische Kommunikation erleichtern, wenn diese Kognitionsleistung von Rechnern übernommen werde – und auch die Fehleranfälligkeit von Befunden verringern. Menschen seien gegen Fehler nicht gefeit, wie er selbst erfahren habe, als er im Rahmen einer Mensch-Maschine-Vergleichsstudie innerhalb von drei Tagen knapp 400 Prostata-MRTs beurteilt habe. Darauf sei er seit Jahrzehnten spezialisiert. Dennoch sei ihm am zweiten Tag des Diagnose-Marathons ein Befund entgangen, der aber von der KI aufgedeckt wurde. „Die KI kann uns helfen, die kleinen Momente der Aufmerksamkeitsdefizite, die wir alle haben, zu kompensieren“, resümierte Schlemmer. In Rückschau war dieser Fehler einer Phase der Müdigkeit nach dem Mittagessen geschuldet gewesen. „Wir werden KI im Hintergrund immer mitlaufen lassen, um uns abzusichern.“ Unabdingbar sei das in Screening-Settings wie etwa zum Lungenkrebs-Screening mit Niedrigdosis-Lungen-CT. In einer großen Europäischen Lungenkrebsstudie (4-IN-THE-LUNG-RUN) in der Abteilung Radiologie des DKFZ läuft parallel immer eine KI zur automatischen Erkennung von Lungenrundherden mit. In großen Kohorten mit überwiegenden Normalbefunden darf „der eine Moment, wenn da mal etwas suspektes ist, nicht verpasst werden“.

Die Undurchschaubarkeit der Algorithmen

Am Beispiel des Multiplen Myeloms zeigte Schlemmer, dass KI-Verfahren Bilder nicht nur äußerst präzise interpretieren, sondern daraus in Verbindung mit Biomarkern auch aussagekräftige Daten generieren können, die selbst dem geschultesten Auge normalerweise verborgen bleiben. Radiomics heißt dieses Forschungsfeld, auf dem Schlemmers Heidelberger Gruppe Pionierarbeit leistet. Aus einer retrospektiven Analyse von 672 Ganzkörper-MRTs und 370 Knochenmarksbiopsien von Patienten aus acht Zentren entwickelte sie einen Algorithmus, der aus den Ergebnissen einer Knochenmarkspunktion die Tumorlast und deren Verteilung viel zuverlässiger als bisher vorhersagen und damit die Einleitung effektiver Therapien beschleunigen kann. Die Algorithmen sind jedoch, darauf wies Schlemmer eindringlich hin, nicht transparent. „Wir können nicht Schritt für Schritt nachvollziehen, wie ein KI-System von einer Ausgangssituation zu einem Ergebnis kommt. Es fehlt die Erklärbarkeit.“ Man sollte eine KI also nie allgemein fragen: Was siehst Du auf diesem Bild? – sondern stets speziell bleiben: Ist auf diesem Bild ein Tumor XY zu sehen? Solche Algorithmen haben sie z.B. bei für die Erkennung von Prostatakrebs entwickelt. Doch ihre extrem hohe Verantwortung für die Patienten dürften Ärzte nicht an die KI abgeben, sie müssen vielmehr lernen, KI für ihren Zweck unter Kontrolle zu halten, aus medizinschen, ethischen wie auch aus haftungsrechtlichen Gründen. Das Wissen über das Potential wie auch die Grenzen von KI ist essentiell. Auch deshalb sei eine Integration von KI-Wissen in die Ausbildung unerlässlich. Aktuell nutzen nach Angaben von Heinz-Peter Schlemmer höchsten nur knapp ein Drittel aller Radiologen in der EU KI-Anwendungen regelmäßig in der Praxis, hauptsächlich für spezielle Fragestellungen bei der radiologischen Diagnostik der Lunge, des ZNS und des muskuloskelettalen Apparates. Doch die Entwicklungen schreiten rasant weiter. In asiatischen Ländern sind Berührungsängste vor KI-Anwendungen weite weniger zu verzeichnen.

Noch kein klinischer Nutzenbeweis

Der Wandel habe begonnen und der KI-Markt wachse schnell, unterstrich Schlemmer. Viele sähen darin noch ein Spielzeug, das sie ein bisschen belächelten. Das sei aber der falsche Ansatz. „Wir müssen die Chancen aktiv nutzen und die Risiken konstruktiv begleiten.“ Die Automatisierung der Bildgebung sei in manchen Bereichen dank der Entwicklung intelligenter Scanner bereits in greifbarer Nähe. Eine Teilbefundung durch KI werde eine schnellere Aussortierung des Normalen und damit eine Priorisierung des dringend Behandlungsbedürftigen ermöglichen. KI werde – auch weil sie von Assistenzkräften angewandt werden könne – spezialisierte Radiologen entlasten. „Nur aus Erfahrung weiß ich allerdings, dass alles, was uns bisher zeitlich entlastet hat, zu einer weiteren Arbeitsverdichtung geführt hat.“ Für eine konkrete Vergütung von KI-Anwendungen wird noch der klinische Nutzenbeweis erbracht werden müssen. Doch angesichts des wachsenden Bedarfs und der steigenden Komplexität der medizinischen Bildgebung müssten sich gut ausgebildete Radiologen keine Sorgen um ihre berufliche Zukunft machen. KI werden sie wie selbstverständlich in ihren Arbeitsalltag integrieren wollen und auch müssen. Denn damit werden sich Qualität und Quantität der radiologischen Leistungen steigern lassen. Und die dringend benötigte Bildgebung wird somit der Bevölkerung in der Breite gerecht zugänglich gemacht.

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