Noch kein Durchbruch für digitale Gesundheitsanwendungen

Perspektivisch steht ihnen aber eine große Zukunft bevor

„Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) – ist jetzt der Durchbruch gelungen?“ lautete der Titel der dritten Podiumsdiskussion bei der 11. Jahrestagung des House of Pharma & Healthcare (HoPH), und die Antwort war klar: Nein, natürlich nicht. Das Digitale-Versorgungs-Gesetz (DVG), das „Apps auf Rezept“ möglich macht, ist ja erst am 19. Dezember 2019 in Kraft getreten. Seitdem hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) knapp drei Dutzend DiGAs dauerhaft oder auf

Bewährung zugelassen. Nur vier Prozent der deutschen Ärzte verschreiben bisher überhaupt DiGAs. Deren  GKV-Umsatz lag 2021 gerade einmal bei 14 Millionen Euro. Perspektivisch aber zeichnet sich, das zeigte die Diskussion, eine große Zukunft für DiGAs ab. Sie werden aller Voraussicht nach zu erheblichen  „patiententenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserungen in der medizinischen Versorgung“ führen, wie Dr. Wolfgang Lauer, Leiter der Abteilung für Medizinprodukte am BfArM, betonte.

 

Zulassungspflichtige Medizinprodukte

Die Zulassung von DiGAs fällt in Lauers Zuständigkeitsbereich, weil es sich bei ihnen um Medizinprodukte handelt. „Sie unterliegen den gleichen rechtlichen Regelungen wie zum Beispiel ein Fieberthermometer, ein Computertomograph oder eine Hüftprothese.“ DiGAs dürften allerdings derzeit nur niedrigen Risikoklassen angehören und nicht etwa hohen wie künstliche Herzklappen. „Aktuell sind 33 DiGAs als erstattungsfähige Medizinprodukte beim BfArM gelistet“, sagte Lauer. Insgesamt habe es bisher etwa 150 Anträge auf vorläufige oder endgültige Aufnahme in diese Liste gegeben. Diese Relation zeigt, dass DiGAs im Gegensatz zu gewöhnlichen Gesundheits- oder Selbstoptimierungs-Apps einer Prüfung durch die Zulassungsbehörde unterzogen werden. "Dabei werden verschiedene Aspekte berücksichtigt, allen voran der Datenschutz und die Wirksamkeit, aber auch Interoperabilität und die Aktualität der verwendeten medizinischen Quellen“, sagte Nora Blum, Chefin des 2016 von ihr mitgegründeten Unternehmens Selfapy. Das erste Produkt ihres Unternehmens war ein verhaltenstherapeutischer Online-Kurs für Menschen mit leichten und mittelschweren Depressionen. Vergleichbare Kurse bietet Selfapy inzwischen in den Indikationen Angst- und Panikstörung an. Die Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz betrügen in Großstädten durchschnittlich fünf Monate, auf dem Land deutlich länger, sagte Blum. „Da kann der Hausarzt nichts anderes machen, als Medikamente verschreiben, die der Patient nicht unbedingt möchte – oder neuerdings eben eine unserer Apps.“

 

 

Nachweis des Langzeitnutzens steht aus

 

Das Spannende an diesen Apps sei ja, dass der Patient selbst entscheiden könne, ob er sie benötige, sagte Tim Steimle, Fachbereichsleiter Arzneimittel bei der Techniker Krankenkasse (TK). Versicherte, die ihrer Krankenkasse einen Nachweis über eine entsprechende Indikation vorlegen, erhielten eine gewünschte DiGA gemäß dem DVG auch ohne ärztliche Verordnung. Bisher betreffe das aber nur rund acht Prozent der DiGas, für die seine Krankenkasse aufkomme, vorzugsweise in Metropolregionen, wo ein digitaler Lifestyle eher normal sei. „Wir finden digitale Versorgung als TK besonders gut, denn sie bringt vor allem in der Versorgung psychisch Kranker viel voran“, unterstrich Steimle. „Aber was uns nachdenklich macht, sind die hohen Kosten, die wir für die DiGAs zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben.“ Bei einem Preis von 599 Euro pro App stelle sich immer wieder die Frage, ob das im Vergleich zu anderen Behandlungsmöglichkeiten eine sinnvolle Investition sei. „Der entscheidende Punkt wird sein, ob DiGAs über längere Zeit einen Nutzen nachweisen können.“ Dafür gebe es bisher jedoch keine belastbaren Daten.

 

Positive Versorgungseffekte für chronisch Kranke

Der Gesetzgeber habe das Zulassungsverfahren für DiGAs bewusst als zügigen „Fast-Track“ konzipiert, dessen Bewertungszeit nur drei Monate dauere, entgegnete Wolfgang Lauer. Damit habe er neue Wege beschritten, die weltweit Beachtung fänden. Um digitale Medizinprodukte als Ergänzung bisheriger Versorgungsmöglichkeiten schnell in die Anwendung zu bringen und deren kurzen Innovationszyklen gerecht zu werden, verlaufe dabei auch der „Datennachweis zur Nutzengenerierung“ anders. Nutzen werde als positiver Versorgungseffekt definiert und dieser könne auf zweierlei Art nachgewiesen werden: Entweder als klassischer medizinischer Nutzen mit klinischen Endpunkten oder als patientenrelevante Verbesserung. „Wo ich einen Arzttermin nicht schnell bekommen kann, wo ich weit fahren muss, wo ich bei chronischen Erkrankungen große Aufwände habe, regelmäßig in Kontakt zu treten, da können DiGAs die Behandlung meiner Krankheit erleichtern, meine Gesundheitskompetenz steigern und meine Adhärenz erhöhen.“ Fast alle derzeit als erstattungsfähig gelisteten Medizin-Apps, darauf wiesen Lauer wie auch Nora Blum hin, hätten einen klassischen medizinischen Nutzen nachgewiesen.

 

Innovation zu erklären ist aufwändig

Warum engagiert sich ein Großunternehmen wie Roche für die digitale Gesundheitsversorgung und gründet im Frühjahr 2020 mit RoX Health inmitten der Berliner Hightech-Szene ein Tochterunternehmen, das sich als eine Art Getriebe zwischen Start-up-Welt und Big Pharma versteht? Ganz einfach, sagte dessen Geschäftsführer Dr. Robert Schnitzler: „Digitale Lösungen beschleunigen in unserer eigenen Pharmaforschung den Erkenntnisgewinn über die Wirksamkeit von Therapien und eignen sich

zudem prinzipiell für die Regelversorgung.“ Das mache sie zu einem „absolut wirkungsvollen Hebel“ des medizinischen Fortschritts. Es sei aber bedauerlich, dass DiGAs unter Medizinern derzeit noch kaum Anklang fänden. Das liege nicht daran, dass die Studien schlecht oder die Evidenz ihrer Wirksamkeit schwach, sondern dass Innovation erklärungsbedürftig sei. „Es erfordert einen großen Aufwand, digitale Lösungen in den ärztlichen Alltag zu bringen. Die kleinen DiGA-Unternehmen, die aus der Akademia kommen, können das nicht leisten, die sind schon in Vorleistung getreten, um in die Zulassungsverfahren zu kommen.“ Wer also solle diesen Markt entwickeln, wie solle digitale Gesundheitsversorgung in die Breite kommen, wenn deren Akteure nicht von Anfang an mit Luft zum Atmen versorgt würden, wie es ja in anderen Innovationsfeldern wie der Elektromobilität oder dem Klimaschutz auch geschehe? Die Begeisterung über den Innovationsschub durch das DVG, so Schnitzler, sei bei manchen DiGA-Start-Ups inzwischen der Frage gewichen, ob sie es sich überhaupt noch antun sollten, Zulassung und Markteintritt in Deutschland zu suchen. Oft höre er neuerdings: „Könnt ihr uns nicht helfen, direkt in die USA zu gehen, wir kommen dann irgendwann wieder?“

 

Hoffnung auf schnell wachsenden Markt

Wenn das DVG für Patienten einen direkten Zugang zu DiGAs verschafft, sagte Tim Steimle, dann müsse das eben auch von dieser Seite fliegen. „Wir helfen beim Fliegen und wir machen das im Rahmen unserer Versorgungsverträge, in denen digitale Angebote eine große Rolle spielen.“ So habe die TK zum Beispiel bereits 52.000 DiGAs zur Migräne-Behandlung erstattet. Arzneimittelhersteller seien generell sehr interessiert an digitalen Gesundheitsanwendungen, weil sie darin ein attraktives Geschäftsmodell sähen, bestätigte Dr. Hermann Kortland, stv. Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller e.V. (BAH) die positiven Zukunftsaussichten für DiGAs. Dieses Interesse habe sich schon während des Gesetzgebungsverfahrens gezeigt. „Es gab eine Vielzahl von Stellungnahmen seitens unserer Mitgliedsunternehmen.“ Verstärkt habe sich dieses Engagement, als es den 13 DiGA-Herstellerverbänden und dem GKV-Spitzenverband aufgegeben war, eine Rahmenvereinbarung für die Vergütung von DiGAs auszuhandeln. Die Verhandlungen, die von Mai 2020 bis Ende 2021 dauerten, hätten vom Engagement der drei beteiligten Arzneimittelverbände profitiert, „denn die brachten als Vorbild ihre AMNOG-Erfahrungen ein“. Er wisse von mindestens 15 BAH-Mitgliedsunternehmen, die DiGAs entwickeln, sagte Kortland, und er sei überzeugt, dass der Markt rasch wachsen werde. Schon für das laufende Jahr erwarte er in Deutschland einen DiGA-Umsatz von rund 100 Millionen Euro. „2024 wird er im hohen dreistelligen Millionenbereich liegen.“

 

Urheberrecht der Fotos: Andreas Henn

 

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