"Komplexer herzustellen als ein biotechnologisches Produkt"

Bionorica-Chef plädiert beim „Friday talk“ für evidenzbasierte Phytotherapie .

Die Heilkraft von Pflanzen nicht nur intuitiv zu nutzen, sondern wissenschaftlich zu entschlüsseln und damit auf eine rationale Basis zu stellen, ist die Strategie des mittelständischen Unternehmens Bionorica. „Phytoneering“ lautet das Leitwort dieses Vorhabens, mit dem sein Inhaber und Vorstandsvorsitzender Prof. Dr. Michael A. Popp das Familienunternehmen führt, das er 1988 im Alter von 28 Jahren übernommen hat. Die Phytotherapie habe damals außerhalb der Schulmedizin gestanden und unter etablierten Pharmaforschern keinen guten Ruf gehabt, sagte er in seinem Vortrag im Rahmen der „Friday talks“ des berufsbegleitenden Studiengangs zum Master of Pharmaceutical Business Administration (MBA). „Es war schwierig, den ersten Wissenschaftler davon zu überzeugen, zusammen mit mir zu forschen.“ Dennoch sei es ihm gelungen, bald exzellente Experten einzustellen und externe Kooperationen einzugehen, mit deren Hilfe er die Phytotherapeutika seines Unternehmens evidenzbasiert habe entwickeln und profilieren können. Heute ist Bionorica mit Sitz in Neumarkt in der Oberpfalz eine international agierende Europäische Aktiengesellschaft mit über 1.600 Mitarbeitern und einem Umsatz von rund 300 Millionen Euro.

Sinupret: Eine Rezeptur wird entschlüsselt

Professor Popp konzentrierte sich in seinen Ausführungen auf den Bestseller aus Bionoricas Portfolio. Das ist Sinupret®, ein Präparat, welches in erster Linie der Behandlung von Entzündungen der Nasennebenhöhlen (Sinusitis) dient. Es ist – nach Voltaren® Schmerzgel – das zweitumsatzstärkste freiverkäufliche Präparat (OTC) in deutschen Apotheken. Seine hauptsächlich wirksamen Bestandteile entstammen dem Eisenkraut, der Enzianwurzel, Holunderblüten, dem Sauerampferkraut und den Blüten von Schlüsselblumen. Das Präparat war schon von Popps Großvater Josef entwickelt worden. 1933 begann dieser in seinem Nürnberger Stadthaus Tees und pflanzliche Arzneien in individuellen Formulierungen für seine Patienten zuzubereiten und anzubieten. Die Nachfrage nach Sinupret war von Anfang an groß. Welche seiner Ingredienzien auf welche Weise wirkten, wusste Josef Popp freilich nicht. Die Rezeptur basierte auf seinem reichen naturheilkundlichen Erfahrungsschatz. Erst der Zusammenarbeit seines Enkels mit führenden Rhinologen in den USA war es beispielsweise zu verdanken, dass 1996 die sehr wichtige, aber bis dahin unbekannte Beteiligung des Ampferkrauts an der antientzündlichen Wirkung von Sinupret sowie die antiviralen Effekte von Eisenkraut und Schlüsselblumen entdeckt wurden. Aber selbst damals, so Popp, sei die Präzision, mit der man pflanzliche Arzneimittel heute herstellen, analysieren und auf ihre Verträglichkeit und Wirksamkeit prüfen könne, noch „ein Traum“ gewesen, der sich erst durch die Fortschritte in der Massenspektrometrie, der Genomforschung und der Digitalisierung habe erfüllen lassen.

„Generische Phytopharmaka gibt es nicht“

Diese Präzision beginne bei der Auswahl der Rohstoffe. Aus Wildpflanzen ließen sich nämlich keine Phytotherapeutika definierter Qualität gewinnen. Also habe man zunächst sein eigenes Saatgut mit exakt bestimmtem Flavonoidgehalt entwickelt, um es auf eigenen Feldern auszubringen. Über den optimalen Erntezeitpunkt der daraus wachsenden Pflanzen entscheide man mit Hilfe handlicher Analytik-Automaten auf dem Feld. Dennoch wiesen die Ernten von verschiedenen Feldern natürlicher Einflüsse wegen stets kleinere Differenzen auf.  Deshalb messe man in jeder Rohstoffcharge eine Fülle von Parametern, um daraus die richtige Mischung für eine homogene Produktion zu berechnen. „Tausende von Daten“ seien also für eine qualitätsgesicherte Verarbeitung des Rohmaterials auszuwerten. In die Digitalisierung der Produktion habe Bionorica in den vergangenen sieben Jahren rund 161 Millionen Euro investiert. „Eine pflanzenbasierte Arznei ist komplexer herzustellen als ein biotechnologisches Produkt.“ Auch aus diesem Grund gebe es generische Phytopharmaka genauso wenig wie einen generischen Chateau Margaux.

Überzeugende Studien für die Zulassungsbehörden

Bereits 1997 hatten Sinupret® und Sinupret forte® die Nachzulassung nach dem deutschen Arzneimittelgesetz erhalten. Anschließend sei es gelungen, das Präparat in jahrzehntelanger Arbeit pharmakokinetisch und pharmakodynamisch so gründlich zu erforschen, dass sich daraus ein neuer aktiver pharmazeutischer Wirkstoff entwickeln ließ, der 2012 unter dem Handelsnamen Sinupret extract® zugelassen wurde. Dieses Präparat stimuliert, wie präklinische Studien ergaben, dosisabhängig den Transport von Chloridionen durch zwei verschiedene Ionenkanäle und wirkt dadurch schneller schleimlösend. Außerdem erhöht es die Schlagfrequenz der nasalen Flimmerhärchen. Klinisch erweist es sich als besonders wirksam gegen akute Formen der Sinusitis. Diese würden sehr häufig mit Antibiotika behandelt, sagte Michael Popp, obwohl sie mehrheitlich viral bedingt seien.

Trotz aller Fortschritte der wissenschaftlichen Erforschung pflanzlicher Arzneimittel sei es jedoch vermutlich kaum möglich, jemals das wirksame Zusammenspiel all ihrer unzähligen Inhaltsstoffe zu erklären. „Ich werde Sinupret mein Leben lang nicht vollständig verstehen.“ Klar aber sei, dass der Multi-Target-Ansatz von Phytotherapeutika generell sanfter sei und ein geringeres Risiko von Nebenwirkungen berge als der Single-Target-Ansatz pharmazeutisch genau definierter Arzneistoffe. Immer wieder betont werden müsse zudem, dass Phytotherapien keine Placebos seien und überhaupt nichts mit Homöopathie zu tun hätten. „Leider kennen viele Ärzte diesen Unterschied nicht.“

„Heimvorteil“ bei Pflanzenpräparaten?

Im Anschluss an Popps Vortrag entspann sich eine lebhafte Diskussion, in deren Verlauf eine Frage besonderes Interesse fand. Gibt es möglicherweise eine Ko-Evolution von Pflanze und Mensch, dergestalt dass etwa europäische Pflanzen besonders gut bei Europäern und asiatische besonders gut bei Asiaten wirken? Er denke nicht, sagte Popp, denn Bionorica beziehe seine Pflanzen aus vielen Teilen der Welt, ohne regionale Schwankungen in der Wirksamkeit seiner Präparate festzustellen. Um die Sinupret-Zulassung in China zu erhalten, habe man zum Beispiel dort klinische Studien an chinesischen Patienten vornehmen müssen. Dem stellte ein Experte folgende Überlegung entgegen: Wenn man einzelne Inhaltsstoffe aus wirksamem Pflanzenmaterial isoliere, wirkten sie oft weniger stark oder gar nicht mehr. Er vermute, dass liege daran, dass das Zusammenspiel aller Inhaltsstoffe notwendig sei, um Transportkanäle an- oder auszuschalten. Solche Transporter hätten sich in der Evolution aber doch höchstwahrscheinlich durch die Exposition gegenüber Pflanzen entwickelt. Aus einer unterschiedlichen Flora könnte also eine genetische Differenz entstanden sein, die unterschiedliche Ansprechstärken auf Phytotherapeutika begründe. Sollte eine solche Ko-Evolution stattgefunden haben, meinte ein anderer Diskussionsteilnehmer, müsse das sehr früh in der Geschichte gewesen und längst globalisiert eingeebnet sein. Denn unzweifelhaft wirkten auch solche Phytotherapeutika bei Europäern, die zu einem Drittel aus außereuropäischen Pflanzen stammen.

 

Zurück