Deutschland kann noch „ganz vorne mitspielen“

| News

Rückblick 5. Jahrestagung 2016 Podiumsdiskussion über Big Data und Präzisionsmedizin:

Wie realistisch ist die „Hoffnung, dass alle Menschen eines Tages zur richtigen Zeit das richtige Medikament bekommen werden, das ihrer individuellen Biologie genau angepasst ist“, fragte Moderatorin Claudia Wüstenhagen von „Zeit Doctor“ zu Beginn der Podiumsdiskussion bei der fünften Jahrestagung des House of Pharma & Healthcare zum Thema "Game Changer Precision Medicine und Big Data - Wird Deutschland abgehängt?" Sie knüpfte damit an die vorausgegangene Key Note Lecture an, in der Dr. Edward Abrahams, Präsident der amerikanischen Personalized Medicine Coalition, das intensive Engagement der Pharmaindustrie auf diesem Feld hervorgehoben und Vorurteile widerlegt hatte, wonach diese durch zukünftige maßgeschneiderte Therapien ihr herkömmliches Geschäftsmodell, vor allem auf breitenwirksame Block-Buster-Medikamente zu setzen, gefährdet sehe. Die Hoffnung auf eine Präzisionsmedizin – wie sie US-Präsident Obama Anfang 2015 bei der Vorstellung einer groß angelegten Initiative formulierte – speist sich aus der rasch wachsenden Verfügbarkeit und Analysierbarkeit personalisierter Gesundheitsinformation, sei es in Form von Genomdaten oder großer Datenmengen, wie sie permanent im Gesundheitssystem entstehen. Am Horizont zeichne sich bereits deutlich ab, dass diese Hoffnung dabei ist, über kurz oder lang Realität zu werden, war die vorherrschende Meinung der Gesprächsteilnehmer auf dem Podium.

Problematische Fragmentierung des deutschen Gesundheitssystems

“Der Zug in Richtung Präzisionsmedizin rollt”, sagte Privatdozent Peter-Andreas Löschmann, der medizinische Direktor der Pfizer Pharma GmbH in Berlin. „Wenn wir mitfahren wollen, müssen wir uns beeilen, sonst sehen wir eines Tages nur noch dessen Rücklichter.“ Allein auf Geräten von Siemens fänden beispielsweise weltweit in jeder Stunde 200.000 Patientenuntersuchungen statt, unterstrich Dr. Bernd Montag, CEO von Siemens Healthineers, die Bedeutung von Big Data. „Die Auswertung solcher Daten könnte einen enormen medizinischen Wissenszuwachs bewirken“. Dabei gehe es aber um einen „echten Paradigmenwechsel“. Es reiche nicht aus, neue Technologien in die bestehenden Strukturen einzupassen, vielmehr müsse man die Strukturen des Gesundheitssystems so verändern, dass sie dem ganzen Patienten und damit auch den neuen Technologien gerecht würden. Dafür sei das deutsche Gesundheitssystem in seiner spezifischen Fragmentierung aber schlecht gerüstet. Während etwa die Academic Medical Center der USA wie zum Beispiel an der Johns Hopkins University in Baltimore für die Gesunderhaltung der Bevölkerung in ihrer Region verantwortlich seien und dafür auch entsprechende Incentives erhielten, beschränkten sich die deutschen Universitätsklinika auf ihre Rolle als Maximalversorger: „Sie sehen auf der letzten Eskalationsstufe nur Momentaufnahmen der Patienten, die über viele Systembrüche bei ihnen ankommen.“

Dass deutsche Mediziner in der Regel zu wenig von ihren Patienten wüssten, um mit ihren Daten effektiv umgehen zu können, beklagte auch Peter-Andreas Löschmann. In Schweden zum Beispiel habe jeder Bürger eine Nummer, über die all seine Gesundheitsdaten zugänglich seien, wogegen diese in Deutschland vielfach verteilt vorlägen. Dummerweise habe man im Zuge der Wiedervereinigung auch das zentrale Krebsregister der DDR abgeschafft. Föderal organisierte Folgeregister könnten in ihrer Fragmentierung diesen Verlust nicht wettmachen. Auch die einheitliche Gesundheitskarte sei in Deutschland noch immer nicht verwirklicht.

Dennoch könne Deutschland bei „Big Data ganz vorne mitspielen“, sagte Prof. Georg Rosenfeld, Vorstand Technologiemarketing und Geschäftsmodelle der Fraunhofer-Gesellschaft, wenn es als Vorreiter die Kernfrage der Datensouveränität löse. „Als Industrieland generieren wir viele Daten, die Google noch nicht hat. Wenn wir kluge Strategien für den sicheren Umgang damit entwickeln, können wir gewinnen, speziell in der Medizin bei der Schaffung eines medical data space.“ Überdies dürfe man sich nicht abgehängt fühlen, nur weil man nicht so große Geldsummen aufrufen könne wie die USA in ihrer Präzisionsmedizin-Initiative. Man habe große Chancen, wenn man verstärkt auf Kooperation setze und die Translation nach vorne bringe, „so wie das zum Beispiel hier in Frankfurt am Fraunhofer-Zentrum um Herrn Professor Geißlinger geschieht“.

Bürgersouveränität versus „digitale Feudalherrschaft“

Die wachsende Bedeutung ihrer persönlichen medizinischen Daten gebe allen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, sich der „digitalen Feudalherrschaft“ großer Konzerne zu erwehren, und sich selbst als Souverän zu begreifen, betonte Prof. Ernst Hafen vom Institut für Molekulare Systembiologie der ETH Zürich. „Bei Präzisionsmedizin und Big Data handelt es sich ausschließlich um persönliche Daten. Wir müssen deshalb lernen, uns als Akteure zu begreifen. Wir alle haben ein Bankkonto und die Wirtschaft funktioniert, weil wir unser Geld so ausgeben, wie wir das tun. In Zukunft solle jeder von uns auch ein Gesundheitsdatenkonto haben und selbst entscheiden, welche Teile davon er dem Gesundheitssystem zur Verfügung stellt. Genauso wie man freiwillig Blut spenden geht, sollte man das mit seinen Daten machen können.“ Praktisch hat Hafen diesen Anspruch umgesetzt, indem er die Midata-Genossenschaft gegründet hat. Jedes ihrer Mitglieder besitzt ein Datenkonto, das an eine Online-Plattform gekoppelt ist, über die er seine medizinischen Daten teilen kann, mit wem er will. „Wir alle sind Milliardäre in Sachen Genomdaten“, sagte Ernst Hafen. „Für die Präzisionsmedizin liegt der Wert in der Gesamtheit unserer Daten.“

Übersteigt es aber nicht die Kapazität des Menschen, so viele Daten sinnvoll auszuwerten? Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen seien dafür mit Sicherheit notwendig, sagte Georg Rosenfeld. „Gerade bei der Auswertung von Bilddaten, beim Bildvergleich und in der Mustererkennung sind intelligente und lernfähige Maschinen sehr hilfreich.“ Die Frage, auf die es ankomme, sei aber: „Gebe ich die Entscheidung, was ich aufgrund der maschinellen Interpretation mache, an die Maschine ab, oder bleibe ich Herr des Verfahrens, indem ich mir Vorschläge machen lasse, aufgrund derer ich dann selbst die Entscheidung treffe?“

Solche maschinell präzise vorbereiteten Therapieoptionen könnten tatsächlich dazu führen, dass die Ärzte wieder mehr Zeit für ihre Patienten haben – und dieses Plus an persönlicher Zuwendung sei es ja auch, wie Claudia Wüstenhagen erinnerte, was Umfragen zufolge viele Menschen vor allem erwarten, wenn sie den Begriff personalisierte Medizin erstmals hören.

Mehr Informationen zur 6. Jahrestagung House of Pharma & Healthcare am 5. September 2017 finden sie hier.

Zurück