Medizinische Chatbots haben mehr Zeit als Ärzte

Marburger Professor für Künstliche Intelligenz in der Medizin sieht grundlegenden Wandel unseres Gesundheitssystems voraus

Vor den Pforten unseres Gesundheitssystems entsteht derzeit ein Bereich, der dessen Grundfesten erschüttern könnte. Dieser Bereich bildet sich um medizinisch versierte Chatbots, die als Gatekeeper fungieren, indem sie ihren Nutzern – also potentiellen Patientinnen und Patienten – Vordiagnosen stellen und gut begründete Ratschläge für die nächsten Schritte geben. „Früher hat der Bürger selbst entschieden, an wen er sich im Gesundheitswesen als Erstes wendet, jetzt schiebt sich dazwischen eine App, die ihn zum Beispiel eines Tages direkt vom heimischen Sofa in eine Fachklinik überweisen könnte“, erklärte Professor Martin Hirsch in einem Workshop von Hessen Trade & Invest im Rahmen der Digital Week des House of Pharma and Healthcare. „Genau das ist der Bereich, in den die großen Techkonzerne eindringen. Sie haben längt den Versuch aufgegeben, innerhalb des Gesundheitssystems selbst etwas zu verbessern. Sie setzen sich lieber vor dessen Türen, um die Patientenströme zu lenken. Oder warum baut Amazon jetzt eigene Kliniken in den USA?“ Hirsch weiß, wovon er spricht. Seit Jahrzehnten arbeitet er an der Schnittstelle von Biologie und Informatik und hat 2017 mit Ada Health einen außerordentlich erfolgreichen Chatbot entwickelt und auf den Markt gebracht, der weltweit inzwischen zehn Millionen hochzufriedene Nutzer hat. Um die Folgen dieser und ähnlicher Erfindungen zu erforschen, ist er jüngst wieder in die Wissenschaft gewechselt und hat seit Anfang 2020 den Lehrstuhl für Künstliche Intelligenz (KI) in der Medizin an der Universität Marburg inne. Patientensteuerung, Patientenempowerment und KI-Entscheidungsunterstützung für Klinikpersonal sind die drei großen Themen, denen er sich dort widmet.

Patientensteuerung in der Pandemie

Positiv habe man das Prinzip der App-basierten Patientensteuerung von Marburg aus jüngst mit einem regionalen Leitsystem für Covid-19 erprobt. Im Einzugsbereich des Universitätsklinikums habe man den Menschen eine App angeboten, die ihnen interaktiv zwei Fragen beantwortete, wenn sie Angst hatten, infiziert zu sein: „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich an Covid-19 erkrankt bin, und wohin gehe ich genau, wenn das so ist?“ Tagesaktuell habe man die Bettenbelegung in den Krankenhäusern der Region eingespeist. „Wenn das Uniklinikum vollzulaufen drohte, haben wir mehr Patienten in die umliegenden Häuser gesteuert.“

„Endlich hört mir jemand zu“

Empowerment bedeute für Patienten in erster Linie: „Endlich hört mir mal jemand zu“. Ein medizinischer Chatbot könne sich eben viel mehr Zeit nehmen als ein Arzt, der immer unter Zeitdruck stehe, weil er seine Praxis auch wirtschaftlich betreiben müsse. Dafür seien die Nutzerinnen solcher Apps zutiefst dankbar. Denn sehr systematisch und geduldig ergründe beispielsweise Ada ihre Symptome. Ada hangele sich dabei nicht an einem stumpfen Entscheidungsbaum entlang, sondern verfolge einen nicht-vordefinierten Algorithmus, was ihr ermögliche, die Differentialdiagnostik so lange voranzutreiben, bis sie zu einer belastbaren Wahrscheinlichkeitsabschätzung komme, etwa: „Sechs von zehn Menschen, die diese Symptome zeigen, leiden an einer akuten Gastritis“.

Darf eine App an der Hausärztin vorbeinavigieren?

Selbstverständlich könne Ada keine Diagnose stellen, aber als Diagnose-Unterstützungs-App einem erkrankten Menschen helfen, den nächsten Schritt zu gehen, und wenn es nur der Weg zur nächsten Apotheke sei, um sich ein OTC-Präparat zu besorgen. „Natürlich könnte eine solche App auch direkt zu einem Medikamentenbringdienst verlinkt werden.“ Weitaus erstaunlicher sei es, dass ein Chatbot auch in der Lage sei, Patientinnen endlich einen diagnostischen Rat zu geben, nachdem sie im etablierten Gesundheitssystem lange vergeblich verzweifelt gesucht hätten. Wie Alyssa zum Beispiel, die seit Jahren an heftigen Unterleibsschmerzen litt, die ihr kein Arzt erklären konnte, die sich erfolglos einigen Operationen unterzogen und fast schon damit abgefunden hatte, als chronische Schmerzpatientin dauerhaft arbeitsunfähig zu sein, bevor sie durch eine Anzeige zufällig auf Ada stieß und beschloss, die Dienste der App in Anspruch zu nehmen. 54 immer detailliertere Fragen lang dauerte es, bis der Chatbot Alyssa mitteilte, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach an einer sehr seltenen Autoimmunerkrankung leide, eine Einschätzung, die ihr Arzt, der die Krankheit gar nicht kannte, dann diagnostisch bestätigte. „Ich habe vor Erleichterung geweint“, schrieb Alyssa. Aber warum, fragte Martin Hirsch, sollte eine App Patienten im Fall einer solchen seltenen Erkrankung überhaupt noch zur Hausärztin schicken, warum nicht gleich an ein Zentrum für seltene Erkrankungen? Aber darf eine App das überhaupt, jemanden am Hausarzt vorbeinavigieren? Und wenn ja, sollte man die Antworten auf alle Chatbot-Fragen dann nicht gleich dem Fachzentrum vermitteln? Wie aber sollen diese Daten die Firewall der Klinik überwinden – und wer trägt die Verantwortung für all diese Entscheidungen, wenn sich eine Ärztin auf ein App-basiertes KI-Unterstützungssystem verlässt?

Pflegekräfte brauchen mehr KI-Unterstützung

Antworten auf diese Fragen zu finden sei auch deshalb so wichtig, weil nicht nur Patienten, sondern auch das medizinische Personal von Krankenhäusern in Zukunft viel stärker durch KI-basierte Entscheidungshilfen unterstützt werden könnte. „Wir sehen die Überlastung von Pflegekräften und von Ärzten, die mit schweren Schicksalen, mit komplexen Fragestellungen und mit einer enormen Arbeitszeit zu tun haben“, sagte Hirsch. „Deshalb würde ich mir wünschen, es gäbe eine stärkere Lobby dafür, digitale Technologien zu nutzen, um die Arbeit dieser Fachkräfte effizienter und weniger belastend zu machen.“ Bisher würden avancierte Informationstechnologien in den Kliniken vorwiegend in der Verwaltung genutzt. „Wir forschen in Marburg auch an KI-Lösungen für die medizinischen Berufsgruppen“.

Erinnerung an die Exzellenz der deutschen Algorithmik

Was den Datenschutz betreffe, sagte Hirsch, so seien 90 Prozent der Ada-Nutzer erklärtermaßen damit einverstanden, dass ihre Daten für wissenschaftliche Zwecke genutzt werden. „Das darf die Privatheit dieser Daten nicht aushebeln“. Dennoch gebe es möglicherweise Spielräume, um eines Tages auch Krankenhausdaten anonymisiert extern sicher verarbeiten zu lassen. Auf Daten allein komme es aber bei der Weiterentwicklung KI-basierter Entscheidungssysteme gar nicht an, betonte Hirsch: „Ada ist noch immer weltweit die präziseste Vordiagnosemaschine. Sie stammt aus Deutschland und ihr liegt kein einziger Maschinenlern-Datensatz zugrunde. Sie basiert alleine auf cleveren Algorithmen, die aus Befunden der Hirnforschung abgeleitet sind. Wir Deutschen sind unglaublich gut in der Algorithmen-Entwicklung. Die Politik sollte deshalb dringend dafür sorgen, auch die KI-Algorithmik zu fördern und nicht nur die Datenbereitstellung.“

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