Innovationsfreundlichkeit sieht anders aus

Pharmazeutische Führungsrolle für Europa nach der Pandemie eher unwahrscheinlich

„Gesundheitspolitik ist immer auch Standortpolitik, das hat die Politik noch nicht richtig verstanden“, sagte Dr. Sabine Nikolaus, Landesleiterin Deutschland von Boehringer Ingelheim. Sie traf diese Aussage bei der 11. Jahrestagung des House of Pharma & Healthcare in der Podiumsdiskussion zum Thema „Technologische Souveränität nach der Pandemie – ist eine konkurrenzfähige pharmazeutische Industrielandschaft in Europa möglich?“. Damit beantwortete sie die Leitfrage ähnlich wie ihre beiden Mitdiskutanten Prof. Ulrike Köhl und

Dr. Kai Rossen: Möglich ja, aber angesichts der aktuellen politischen Weichenstellungen in Deutschland und Europa eher unwahrscheinlich. Ein besonders starker Auslöser des Unmuts der Experten auf dem Podium war dabei das geplante GKV-Stabilisierungsgesetz. Dieses Vorhaben der Bundesregierung, so hatte AbbVie-Manager Olaf Weppner schon zuvor in einem Einzelgespräch mit Moderator Andreas Horchler moniert, bedeute „einen massiven Eingriff in die Innovationsfreundlichkeit des Standorts Deutschland mit nicht absehbaren Konsequenzen für die Versorgungssicherheit“.

 

Riskanter Eingriff in den Arzneimittelmarkt

Natürlich müsse die Bundesregierung angesichts einer Finanzierungslücke der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) von 17 Milliarden Euro handeln, betonte Weppner, Geschäftsführer Commercial bei AbbVie Deutschland. Es sei aber nicht gerecht, dabei vor allem zu Lasten der Versicherten die Reserven der Kassen abzuschmelzen und zu Lasten der Industrie den Arzneimittelmarkt mit weiteren restriktiven Preisvorschriften zu überziehen. Denn der Anteil der Arzneimittelausgaben am GKV-Gesamtvolumen liege seit zehn Jahren stabil bei 16 Prozent. Außerdem habe die Pharmaindustrie 2021 bereits 21 Milliarden Euro an Einsparleistungen erbracht und sei weiter bereit, einen angemessenen Beitrag zu leisten. Besonders schwer wiegen für Weppner die von der Bundesregierung beabsichtigen Veränderungen der Preisfindung nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG). Bisher gelte die einfache Formel: Ein Produkt, das einen vergleichbaren Nutzen bietet wie ein bereits erhältliches, kann den gleichen Preis erzielen, ein Produkt mit Zusatznutzen einen höheren Preis. Das solle jetzt dahingehend geändert werden, dass ein neues Medikament bei gleichem Nutzen zehn Prozent weniger, bei höherem Nutzen gleich viel wie das bereits erhältliche Medikament kosten dürfe.

 

Wohin das führen könnte, verdeutlichte Weppner an einem aktuellen Beispiel aus dem eigenen Haus: Ein Medikament zur Behandlung von Blutkrebs, das kurz vor der Zulassung steht, verlängert gemäß dem Ergebnis der klinischen Prüfung das mediane Überleben der betroffenen Patienten in Kombination mit dem bisherigen Standardpräparat von 12 auf 16 Monate. „Die Neuregelung würde bedeuten, dass die Kombinationstherapie nicht teurer werden dürfte als die bisherige Monotherapie. Der Preis für unser Medikament müsste also bei Null liegen. Damit ist deutlich, dass dieses Medikament in Deutschland nicht auf den Markt kommen kann.“

 

Hightech-Geschäft Wirkstoffproduktion

Nicht nur um die Einführung neuer, sondern auch um die Herstellung bewährter Wirkstoffe ist es in Europa schlecht bestellt, seit diese zum größten Teil in vorwiegend asiatische Billigproduktionsländer ausgelagert worden ist, was immer wieder zu Lieferengpässen führt. „Es ist eine der erschreckendsten Entwicklungen der letzten Dekaden, dass der gesellschaftlich gewollte Preisdruck auf Medikamente dazu geführt hat, dass es betriebswirtschaftlich sehr schwer geworden ist, die Herstellung der Wirkstoffe in Europa abzubilden“, sagte Kai Rossen, der als deutscher Chief Scientific Officer der Sanofi-Ausgründung EUROAPI fungiert, in dem das französische Unternehmen seine sechs europäischen Pharmawirkstoff-Betriebe zusammengeführt hat. „Wir stellen dennoch 70 Prozent unserer Wirkstoffe in Europa her und wir sind dabei erfolgreich“, sagte Rossen. Entscheidend dafür sei es, die Herstellung von Wirkstoffen als ein Hightech-Geschäft zu verstehen, das der fortlaufenden Innovation bedürfe. Das habe inzwischen auch die Politik erkannt. Sie versuche, Innovationen in der Pharmaproduktion zu fördern, die die Wirtschaftlichkeit europäischer Wirkstoffhersteller erhöhen. Deutschland sei bei solchen Initiativen leider nicht vertreten, in Frankreich hätten sie hohe Priorität. „Wenn man in Sachen Innovation seine Hausaufgaben macht, ist die Wirkstoffproduktion in Europa konkurrenzfähig, man muss es nur wollen“, so Rossen. „Wir wollen es, das ist unsere raison d’étre.“

 

Industrie wünscht sich positives Signal  

Auch Boehringer Ingelheim forsche, entwickle und produziere für den globalen Markt zu 80 Prozent in Europa, sagte Sabine Nikolaus. Das GKV-Stabilisierungsgesetz aber werde Auswirkungen auf ganz Europa haben. „Man kann das nicht entkoppeln. Man kann nicht erwarten, dass man durch innovationsfeindliche Gesundheitspolitik einen Standort fördert.“ Auch die Pharmastrategie der Europäischen Union lasse diesbezüglich zu wünschen übrig. Mit dem TRIPS Waiver zur Patentfreigabe für Corona-Impfstoffe beispielsweise habe die Aufgabe des Patentschutzes in Europa begonnen. Für die Impfstoffe könne man das vielleicht noch verstehen, aber schon werde darüber nachgedacht, den Waiver auf Corona-Medikamente insgesamt auszuweiten. Dazu könne man viele Medikamente zählen.  „Wenn das durchkommt, wäre das der nächste Schritt in Richtung Innovationsfeindlichkeit, denn Patente sind das Brot und die Butter der Forschung.“ Die pharmazeutische Industrie wünsche sich „ein Signal zu erhalten, dass wir in Europa gewollt sind“.

 

Die Fallstricke des Föderalismus

Insbesondere das deutsche Gesundheitswesen wiederum hatte Ulrike Köhl im Blick, die Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Zelltherapie und Immunologie, als sie für die Überwindung föderal bedingter Hemmnisse der klinischen Forschung plädierte, die Deutschland auf diesem Gebiet haben zurückfallen lassen. „Es ist nicht akzeptabel, dass man mit Kliniken in verschiedenen Bundesländern immer wieder neue Rahmenverträge für klinische Studien schließen muss“, sagte sie. „Das geht nicht, wenn wir im europäischen Kontext mithalten wollen.“

Unabdingbar sei es auch, die Zulassungsbehörden mit mehr Personal auszustatten, damit sie auf hohem Niveau schneller ihre anspruchsvollen Aufgaben erfüllen könnten. Von Politikern höre sie zwar oft Sätze wie „ja, das sehen wir ein, wir arbeiten daran“, aber solche Lippenbekenntnisse reichten nicht aus, wenn rasches Handeln gefragt sei. Überdies täten bessere Rahmenbedingungen für Risikokapital not, nicht nur in Deutschland, sondern innerhalb der EU, damit Innovation effektiver in den Transfer gebracht werden könne. „Es tut in der Seele weh, zu erleben, dass wir in der Innovation extrem gut aufgestellt sind, aber uns die Formate fehlen, um das interdisziplinär besser zu verbinden.“

 

Verblasst das Best-Practice-Beispiel?

Die Bundesregierung wie auch die EU-Kommission haben als eine Konsequenz der Pandemie das Ziel ausgegeben, Deutschland beziehungsweise Europa in den Bereichen Biotechnologie und innovative Arzneimittelforschung in eine führende Position zu bringen. Daran erinnerten Weppner im Einzelgespräch ebenso wie die Experten auf dem Podium. Dieser Zielsetzung zum Trotz zeige sich inzwischen aber wieder eine Tendenz zur Überbürokratisierung, resümierte Sabine Nikolaus. Dabei habe der Erfolg von BioNTech doch das beste Best-Practice-Beispiel gegeben: „Alle Akteure hatten ein gemeinsames Ziel und haben ihre Partikularinteressen dafür hintangestellt.“ Statt daraus zu lernen, „sind wir davon schon wieder weg und fragen: wie regulieren wir?“

 

Urheberrechte der Fotos: Andreas Henn

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