Im steten Ringen um Konsens

Positionierungen des Deutschen Ethikrates zum Thema Impfen

Was sollen wir tun? Dieser klassischen Grundfrage der Ethik hätte die Politik im Verlauf der Pandemie vermutlich noch viel ratloser gegenübergestanden, wenn sie sich in dieser Zeit nicht bisher fünf Mal der Expertise des Deutschen Ethikrates (DER) hätte versichern können. Freilich sind auch in diesem derzeit 24-köpfigen multidisziplinären Rat die professionellen Ethiker in der Minderheit, wie der Tübinger Moraltheologe Professor Franz-Josef Bormann zu bedenken gab, der dem 2007 gegründeten Gremium seit sechs Jahren angehört. Zudem neige der DER, dessen Fokus die modernen Lebenswissenschaften sind, im Falle unüberwindlicher Meinungsverschiedenheiten dazu, lediglich die in der Gesellschaft vorhandenen Argumentationsmuster widerzuspiegeln, woraus die politischen Entscheider „keinen großen Benefit ziehen“ könnten. Hinter solchen unter Zeitdruck besonders häufig auftretenden Dissensen lägen oft „partikuläre Interessen und politische Voreingenommenheiten, die dann kunstvoll rationalisiert werden“. Dennoch habe der DER der Politik während der Pandemie wesentliche Leitplanken für ihr Handeln weisen können, sagte Bormann in einem Online-Vortrag "Der Deutsche Ethikrat und das Impfen - Positionierungen im Laufe der COVID-19-Pandemie“ im Rahmen der vom House of Pharma & Healthcare und der Stiftung Arzneimittelsicherheit angebotenen Veranstaltungsreihe zur Impfstoffsicherheit. In seiner 15-jährigen Geschichte habe der DER zu keinem Thema häufiger Stellung genommen als zum Impfen.


Mit den Masern fing es an 

Grundlegende Weichenstellungen nahm der DER bereits vor Ausbruch der Pandemie in seinem ausführlichen Positionspapier „Impfen als Pflicht?“ vor, das er im Juni 2019 mit Blick auf die in ihrer Gefährlichkeit unterschätzten Masern publizierte, die sich durch eine gut verträgliche Impfung wirksam vermeiden lassen. Den Anlass zu diesem Papier bot die Tatsache, dass Deutschland die von der Weltgesundheitsorganisation vorgegebenen Impfziele bei der Masernschutzimpfung regelmäßig verfehlt und es immer wieder zu einem Aufflammen der Krankheit kommt, wogegen die Masern in der Mehrzahl der europäischen Staaten eliminiert sind. Für die Elimination des Erregers ist eine 95-prozentige Impfquote notwendig. Wäre in diesem Fall also nicht eine Masernimpfpflicht geboten? Zur Beantwortung dieser Frage müsse der außerordentlich vieldeutige Begriff der Impfpflicht in mehrfacher Hinsicht konkretisiert werden, sagte Bormann, zum Beispiel in Bezug auf deren Adressaten, deren präzises Ziel, deren Durchsetzung, deren zeitliche Geltungsdauer und die Zahl der medizinisch erforderlichen Impfdurchgänge. Vor allem müsse zwischen einer moralischen und einer rechtlichen Pflicht unterschieden werden, also zwischen einer Tugendpflicht, der man aus guten Gründen nachkommen sollte, und einer gesetzlichen Pflicht, deren Nichterfüllung mit Zwangsmaßnahmen unterlegt ist. „Bislang kennen wir rechtliche Impfpflichten in Deutschland fast überhaupt nicht“, sagte Bormann.

Für den Ethikrat sei in dieser Situation eine Zwangsimpfung nicht zu rechtfertigen gewesen. Auch habe er angesichts der allgemeinen Schulpflicht befunden, dass es zur akuten Gefahrenabwehr zwar anlassbezogene zeitweilige Schulausschlüsse geben dürfe, eine generelle Verknüpfung von Schulbesuchserlaubnis und Impfstatus aber nicht statthaft sei. Als zentrale Forderung habe er jedoch eine Impfpflicht für Berufsgruppen mit besonderer Verantwortung befürwortet, also für Menschen, die im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen arbeiteten. Wer sich in diesen Bereichen einer Masernimpfung verweigere, solle dort mit einem Tätigkeitsverbot rechnen müssen.

Eine Reihe völlig neuer Fragen

„Auf das Masern-Positionspapier sind wir in der Folgezeit immer wieder zurückgekommen“, sagte Bormann und verwies auf die verschiedenen Textformate, die dem Ethikrat zu Gebote stünden, von Langstellungnahmen, die mehrere 100 Seiten umfassen, „und praktisch Buchcharakter haben“, bis hin zu relativ kurzen Ad-hoc-Empfehlungen, die innerhalb weniger Wochen erarbeitet werden müssten. Trotz der Grundlage, die er mit dem Masernpapier geschaffen hatte, musste der DER während der Pandemie „eine ganze Reihe völlig neuer Fragen behandeln, für die es bislang weder einen ausreichende ethischen Reflexionsrahmen noch ausreichende empirische Evidenz gab, weil es eben ein neuartiges medizinisches Phänomen war“. Noch bevor eine Impfung gegen Covid-19 zur Verfügung stand, befasste sich der DER im September 2020 mit der Frage, ob Genesenen Freiheitsrechte zurückgewährt werden sollten. Zwei Monate später veröffentlichten DER, STIKO und Leopoldina gemeinsam das vielbeachtete Positionspapier zur Priorisierung des Zugangs zu Impfstoffen, das auch die Empfehlung zum Aufbau von Impfzentren enthielt. Im Februar 2021 nahm der DER ad-hoc Stellung zur Frage, ob bereits Geimpften besondere Privilegien zuständen. Im November desselben Jahres folgte, angesichts hoher Zahlen von ungeimpften Beschäftigten in Gesundheitseinrichtungen, die Ad-hoc-Empfehlung für eine Impfpflicht für Beschäftigte in besonderer beruflicher Verantwortung. All diese Stellungnahmen, deren Grundzüge Bormann in seinem Vortrag erläuterte, sind auf der Website des Ethikrates nachzulesen unter https://www.ethikrat.org

Die naturwissenschaftliche Fundierung der Normwissenschaften

Unter erheblichem Zeitdruck verfasste der DER im Auftrag der Bundesregierung im Dezember 2021 eine „Ethische Orientierung zu einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht“. Darin empfahl das Gremium mit vier Gegenstimmen die Ausweitung der gesetzlichen Impfpflicht über die einrichtungsbezogene Impfpflicht hinaus, blieb sich jedoch über Grad und Umfang dieser Ausweitung uneinig. Eine Minderheit von sieben Befürwortern einer Ausweitung plädierte für eine nach dem jeweiligen Risiko differenzierte, gestufte Impfpflicht, eine Mehrheit von 13 Befürwortern für eine allgemeine Impfpflicht für alle über 18-jährigen impfbaren Menschen in Deutschland. Die auch von ihm selbst vertretene Minderheitenposition habe den Vorzug eines Vorratsbeschlusses, sagte Bormann, dessen ethische und verfassungsrechtliche Instrumente man flexibel schärfen und anwenden könne, wenn sich die pandemische Lage erheblich verschlimmern würde. Um das beurteilen zu können, bedürfte der Rat freilich primär „der Information von medizinisch-biologisch-pharmazeutischer Seite“. Sei doch „der Ausgangspunkt für die Normwissenschaften immer der Kenntnisstand der Humanwissenschaften“.

Der Eigensinn der Politik

Der Deutsche Ethikrat sei ein „sehr zeitintensives Gremium“, das ihn vier Arbeitstage im Monat koste, sagte Bormann. Trotz seiner Beauftragung durch die Politik agiere er relativ unabhängig und versuche „sich nicht einer bestimmten Theoriefamilie der Ethik auszuliefern, sondern einen möglichst breiten, theoriefamilienübergreifenden Konsens herbeizuführen“. Wenn das nicht immer gelinge, habe das auch damit zu tun, dass die Besetzung des Gremiums zur Hälfte von den im Bundestag vertretenen Parteien bestimmt werde. Schwierig werde die Arbeit des DER auch dadurch, dass die Aufgabenstellung seitens der Politik nicht immer eindeutig sei. Gerade bei der Frage der allgemeinen Impfpflicht habe man es mit einer „Dualität der Zielbestimmungen“ zu tun gehabt – auf der einen Seite mit dem Ziel, das Gesundheitswesen vor Überlastung zu schützen, auf der anderen mit der anspruchsvolleren Absicht, „vor die Welle zu kommen“ und die Pandemie insgesamt zu überwinden.

Bald wird der Deutsche Ethikrat eine umfangreiche Stellungnahme zu den Lektionen publizieren, die er während der Pandemie gelernt hat. Selbst wenn er darin ein insgesamt positives Fazit seiner Arbeit ziehen sollte, dürften sich die Mitglieder des Gremiums ihrer letztendlichen Ohnmacht gegenüber der Politik bewusst sein. Das strukturierte nationales Impfregister zum Beispiel, das der der DER schon 2019 vorgeschlagen hatte, um zukünftige Maßnahmen auf eine bessere Datenbasis zu stellen, gibt es noch immer nicht.

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