„Ich bin immer nur meinen Interessen gefolgt“

Der Weg einer Wissenschaftlerin zur erfolgreichen Unternehmerin

Wenn eine Wissenschaftlerin auch in unwirtlichem Gelände dem Weg treu bleibt, den sie für richtig hält, dann kann es geschehen, dass sie nicht nur ihre wissenschaftlichen Ziele erreicht, sondern auch zu einer erfolgreichen Unternehmerin wird. Das zeigt der Werdegang von Prof. Dr. Helga Rübsamen-Schaeff, der sie von der Direktorin einer akademischen Institution zur Forschungsleiterin in einem multinationalen Unternehmen und dann zur Gründerin eines Start-ups machte, das außerordentlich schnell reüssierte. „Ich habe diesen Weg nicht geplant“, sagte Rübsamen-Schaeff in ihrem Friday Talk im Rahmen des berufsbegleitenden Studiengangs zum Master of Pharma Business Administration. „Ich bin immer nur meinen Interessen gefolgt.“ Aus ihrem primären Interesse, nämlich Infektionskrankheiten zu verstehen und neue Therapien dagegen zu entwickeln, leitet sich der Name ihres Start-ups AiCuris ab. Er steht für Anti-Infective Cures. 

 

In vollem Lauf ausgebremst 

Ursprünglich zur Chemikerin ausgebildet, wandte sich Rübsamen-Schaeff nach ihrer Promotion der Virologie zu und übernahm – nach dessen Trennung vom Paul-Ehrlich-Institut – 1987 die Leitung des Frankfurter Georg-Speyer-Hauses, dem sie als eine Pionierin der HIV-Forschung in Deutschland zu großem eigenständigem Renommee verhalf. 1994 übertrug ihr die Bayer AG, mit der sie ebenso wie mit der Hoechst AG schon zuvor kooperiert hatte, die Verantwortung für ihre virologische Forschung, sechs Jahre später rückte sie dort zur Chefin der gesamten Antiinfektiva-Forschung auf. Schritt für Schritt entdeckte und entwickelte sie mit ihrem Team präklinisch in mehreren Indikationen eine ganze Reihe von Substanzen mit neuen molekularen Angriffspunkten und biochemischen Wirkmechanismen. „Als einige unserer Arzneimittelkandidaten gerade reif für die klinische Prüfung waren, kündigte Bayer im Dezember 2004 seinen Rückzug aus der Antiinfektiva-Forschung an.“ Damit habe Bayer damals auf einer Linie mit vielen großen Pharmaunternehmen gelegen, denen die Suche nach neuen Targets und die Entwicklung innovativer Medikamente auf diesem Gebiet wenig erfolgversprechend und aus mancherlei Gründen relativ unrentabel erschienen. Zwar habe der Bayer-Vorstand ihrem Argument, die globalisierte Welt sei auf eine gute Infektionsforschung angewiesen, zugestimmt. Von seiner Entscheidung sei er jedoch nicht abgerückt. Allerdings habe er ihr angeboten, ihre Projekte in eine neue Firma mitnehmen zu dürfen. Finanzieren müsse sie deren Gründung aber selbst.

 

Beflügelt von Vertrauen

„Bevor ich beginnen konnte, meine Mitarbeiter zu überzeugen, musste ich meine Entscheidung treffen“. Im Grunde genommen sei ihr das leicht gefallen, denn sie habe gewusst, wie hoch sowohl der medizinische Bedarf als auch das Innovationspotenzial der Projekte ihrer Abteilung waren. „Was medizinisch sinnvoll ist, wird auch finanziell sinnvoll sein“, habe sie sich gesagt. Sie rechnete aber auch aus, dass sie etwa 120 Millionen Euro brauchen würde, um ihre Firma so lange finanzieren zu können, bis die erste Substanz in einer Phase-II-Studie Wirksamkeit bewiesen haben würde. Denn aufgeben wollte sie keine ihrer 13 bisher klinisch noch nicht geprüften Kandidaten. Eine ausgabenmindernde Fokussierung auf ein Präparat verlangten aber die gewöhnlichen Risikokapitalgeber von ihr. „Angesichts einer Erfolgschance von 1:10 in der Klinik wäre das ein Vabanquespiel gewesen“, sagte Rübsamen-Schaeff. “Wir mussten ungewöhnliche Investoren finden, die gleichzeitig etwas vom Pharmageschäft verstehen.“ Da erfuhr sie im Februar 2005, dass Andreas und Thomas Strüngmann, die Gründer des Generika-Herstellers Hexal, ihr Unternehmen an Novartis verkauft hatten. Sie kannte die Brüder, Arzt der eine, Betriebswirt der andere, aus einer früheren Zusammenarbeit, fasste sich ein Herz, griff zum Hörer und schilderte Thomas Strüngmann ihre Situation. „Wen muss ich bei Bayer ansprechen?“ habe dieser nach kurzer Unterredung gefragt. Getragen von der monetären Unterstützung der Strüngmanns und beflügelt von ihrem Vertrauen konnte der Ausgründungsvertrag mit Bayer schon im Oktober desselben Jahres unterschrieben werden.

 

Algorithmen können vor Fehlinvestitionen schützen

Für Pharmaunternehmen könne die intelligente Verarbeitung großer Datenmengen viel Geld sparen, sagte Jochen Maas. „Wir sind heute in der Lage, den Ausgang klinischer Studien allein auf der Basis präklinischer Daten vorherzusagen.“ Das bedeute nicht, dass man in Zukunft auf klinische Studien verzichten dürfe, um die Zulassung für ein neues Medikament zu erlangen. Es bedeute aber, dass man Fehlinvestitionen von vorneherein vermeiden könne, wenn man klinische Studien mit schlechter Erfolgsaussicht gar nicht erst beginne. Sanofi zum Beispiel hätte jüngst 80 Millionen Euro für eine erfolglose klinische Studie einsparen können, wenn es den Algorithmen vertraut hätte. Je älter die Entscheider seien, desto geringer sei allerdings in allen Pharmaunternehmen die Akzeptanz von Algorithmen – was es nur zu einer Frage der Zeit mache, bis das Vertrauen in solche prädiktiven Modellrechnungen allgemein etabliert sei.

 

Prophylaxe gegen einen potenziellen Killer

Am 1. März 2006 ging AiCuris an den Start. „Ein Start-up wird nie groß genug sein, um sein Arzneimittel bei jedem praktischen Arzt zu vermarkten“, sagte Rübsamen. „Strategisch setzten wir daher auf eine Nischenindikation.“ Diese initiale Indikation war für AiCuris die Prophylaxe von Cytomegalie-Ausbrüchen nach einer Knochenmarkstransplantation. Vom Cytomegalievirus (CMV) sind die Hälfte aller Menschen in den Industrienationen und fast alle Menschen in den Entwicklungsländern befallen. Normalerweise verläuft diese Infektion asymptomatisch. Sie besteht lebenslang und bleibt unbemerkt, weil das Immunsystem eine Vermehrung der Viren verhindert. Bei jeder Form von Immunschwäche kann das Virus aber schnell vom Schläfer zum Killer werden. So kostet es immunsupprimierten Patienten nach einer Transplantation häufig das Leben. Ob sich das durch die prophylaktische Gabe des Wirkstoffs Letermovir verhindern lässt, wenn man es nach einer Knochenmarkstransplantation 84 Tage lang verabreicht, prüfte AiCuris in seiner ersten klinischen Studie. Alle bis dahin verfügbaren CMV-Medikamente hatten schwere Nebenwirkungen, weil sie Hemmstoffe der Virus-Polymerase waren und damit auch den menschlichen Organismus angriffen. Zur prophylaktischen Behandlung waren sie ungeeignet. Letermovir dagegen hemmt mit der viralen Terminase von CMV ein Enzym, das beim Menschen nicht vorkommt.

 

Ein konkurrenzloser Game Changer

Letermovir zeigte in der Phase II der klinischen Prüfung gute Wirksamkeit und Verträglichkeit. Als die Ergebnisse 2012 im New England Journal of Medicine publiziert wurden, zogen sie das Interesse einiger großer Pharmafirmen auf sich. Auch wenn AiCuris kurzzeitig erwog, die weitere Entwicklung allein zu stemmen, entschied sich die Firma doch schnell für eine Partnerschaft. Im Oktober 2012 unterschrieb sie einen Lizenzvertrag mit Merck & Co., der ihr 110 Millionen Euro eintrug und Meilensteinzahlungen in Höhe von 332,5 Millionen Euro in Aussicht stellte. 2016 erreichten die Phase-III-Studien ihr Ziel und zeigten, dass Letermovir die CMV-Vermehrung sehr deutlich unterdrückte und auch die Mortalitätsrate nach Knochenmarkstransplantationen signifikant senkte. Im beschleunigten Verfahren erteilte die FDA dem Präparat im November 2017 die Zulassung. Inzwischen beläuft sich sein weltweiter Umsatz auf mehr als 400 Millionen US-Dollar jährlich. „Es ist in dieser Indikation ein konkurrenzloser Game Changer.“ In einer zweiten Indikation, der Anwendung nach Nierentransplantationen, steht Letermovir kurz vor dem Markteintritt.

 

Vor dem Börsengang

Ihre erste Phase-III-Studie aus eigener Kraft führt AiCuris derzeit mit dem Wirkstoff Pritelivir durch, der wieder einen Nischenmarkt adressieren soll, indem er immunkomprimierten Patienten mit resistenten Herpes-Simplex-Infektionen hilft. Weit fortgeschritten in der klinischen Entwicklung ist auch ein Immunmodulator mit dem Laborcode AIC 649. Es handelt sich dabei um ein inaktiviertes Parapoxvirus, das sich primär gegen Hepatitis B richtet, aber nun auch als Mittel zur Behandlung früher Phasen von Sars-CoV-2-Infektionen geprüft wird. Um diese Projekte weiter entwickeln und vermarkten zu können, braucht AiCuris mehr Geld, und bereitet deshalb einen Börsengang vor. Ihre Rechtsform hat die Firma mit ihren 70 Beschäftigten schon 2021 von einer GmbH in eine AG umgewandelt. Wann und wo der Börsengang stattfinden wird, steht noch nicht fest. „Vorzugsweise in den USA“, sagt Rübsamen-Schaeff, die heute dem Aufsichtsrat von AiCuris angehört. „Dort ist mehr Geld vorhanden und die Investoren sind naturwissenschaftlich beschlagener.“ Um an der Börse dann dauerhaft wertvoll zu bleiben, müsse AiCuris seine Pipeline stärker füllen. „Wir suchen deshalb nach fortgeschrittenen klinischen Projekten, die zu unserer Expertise passen.“

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