Fast 100 Jahre alt ist die Theorie der langen Wellen der Konjunktur, die der sowjetische Ökonom Nikolai Kondratjew 1926 publizierte. Seit der Erfindung der Dampfmaschine unterliegt die Weltwirtschaft demnach Entwicklungszyklen, die eine Dauer von etwa 40 bis 50 Jahren aufweisen und nach einem krisenhaften Abschwung in einen neuerlichen Aufschwung übergehen, der von einer abermaligen Innovation getrieben wird. So umstritten diese Theorie unter Wirtschaftswissenschaftlern ist, so fruchtbar bleibt sie doch für das Nachdenken über unsere Zukunft. So auch für den Pharmazeuten Professor Harald Schmidt von der Universität Maastricht, der seine Vision von der sechsten Kondratjewschen Welle in einer Online-Veranstaltung des House of Pharma und Healthcare und der Stiftung für Arzneimittelsicherheit auf überzeugende Art vortrug, wobei er sich auf Erkenntnisse der System- und Molekularbiologie und Perspektiven der künstlichen Intelligenz bezog. Schmidts Überzeugung zufolge wird die nächste lange Welle der Weltkonjunktur nämlich von einer „kompletten Neudefinition von psychosozialer Gesundheit“ getragen sein, wie er es unter dem Titel „Vom Ende der Medizin wie wir sie kennen - und warum Gesundheit eine Zukunft hat“ vor einem beeindruckten virtuellen Publikum ausführte.

Geld allein ist nicht die Lösung
„Alle diese Wellen beginnen mit einer Krise“, sagte Harald Schmidt, um daran sofort die Frage zu knüpfen: „Welche Krise? Wir haben doch eigentlich eine tolle Medizin!“ Vordergründig betrachtet sei das richtig. Die Mortalitätsrate der Menschen zum Beispiel ist im Lauf des 20. Jahrhunderts dramatisch gesunken. Dieser Fortschritt geht aber fast ausschließlich auf die bessere Vorbeugung und Behandlung von Infektionskrankheiten zurück, auf Hygiene, Antibiotika, Impfungen vor allem. Rechne man diesen Beitrag heraus, stelle man eine eher stagnierende Sterblichkeit fest. Auch höhere Gesundheitsausgaben helfen auf Dauer wenig, um die Lebenserwartung zu erhöhen. Das krasseste Beispiel böten die USA, die sich weltweit die höchsten Gesundheitsausgaben pro Kopf der Bevölkerung leisteten, aber die niedrigste Lebenserwartung aller Industrienationen aufwiesen. In Deutschland sehe es nicht viel besser aus. Hinsichtlich der durchschnittlichen Lebenserwartung belege man innerhalb der EU nur Platz 19. „Geld allein kann also nicht die Lösung sein.“ Prävention wäre vielmehr ein wesentlicher Schlüssel zu besserer Gesundheit. „Aber dafür geben wir inklusive Krebsfrüherkennung nur ein Prozent der Gesundheitskosten aus.“ 80 Prozent davon entstehen durch 15 Erkrankungen, die zum großen Teil auf lebensstilbasierte Faktoren zurückzuführen sind. Allen voran Diabetes, dessen Prävalenz von einst ein auf heute sieben bis acht Prozent angestiegen ist. Dem ließe sich durch einen vernünftigen Lebensstil vorbeugen. „Aber der Großteil der Arbeit eines Hausarztes besteht in der Verschreibung von Arzneimitteln.“
Die meisten Arzneimittel sind unpräzise
Das wäre noch zu vertreten, fuhr Schmidt fort, wenn diese Arzneimittel jedenfalls wirkten. Das täten aber nur die wenigsten. „Den meisten Arzneimitteln mangelt es an Präzision.“ Viele Patienten müssten mit einem Arzneimittel behandelt werden, bis ein einziger Patient aus der Behandlung einen Vorteil zöge. Diese number needed to treat ist ein gängiger Term der pharmaökonomischen Statistik. Man kann sie für jedes Medikament auf einschlägigen Webseiten nachschlagen. Eine Folge dieser mangelnden Präzision: Die Kosten für die Entwicklung von Arzneimitteln explodieren, während sich der Output gleichbleibt. In Umkehrung des Mooreschen Gesetzes der Computertechnologie, wonach sich die Leistungsfähigkeit von Rechnern alle zwei Jahre verdoppelt, könne man fast zynisch von einem Eroomschen Gesetz der Pharmaindustrie sprechen: „Wir werden immer schlechter.“ Schlimmer noch: „Von den Arzneimitteln, die es dann auf den Markt schaffen, haben laut BfArM nur ein Drittel einen Zusatznutzen.“ In Folge davon wiederum habe sich die Pharmaindustrie inzwischen aus vielen Indikationen zurückgezogen. Sie konzentriere sich heute im Wesentlichen auf antineoplastische und antivirale Wirkstoffe sowie generell auf Immunmodulatoren.
Die Kapitulation der herkömmlichen Medizin
Der Hauptgrund für dieses Scheitern liegt laut Schmidt auf der Hand: „Wir verstehen so gut wie keine Erkrankung.“ Unsere Krankheitsdefinitionen entstammten alle noch dem 19. und 20. Jahrhundert: „Wir teilen uns den Menschen fein säuberlich nach Organen auf. Für jedes Organ gibt es eine Klinik, einen Facharzt und eine Forschungsdisziplin. Wir tun noch immer so, als könnten wir eine Erkrankung verstehen, indem wir nur auf ein Organ gucken, und alles andere ausblenden.“ Bis heute würden Krankheiten meist ohne jegliches molekulare Verständnis für die Ursache der Erkrankung behandelt. Wer aber die Ursache nicht verstehe, könne letztlich nur Symptome behandeln. „Deshalb haben wir so viele chronische Erkrankungen. Sie sind ein Zeichen für die Kapitulation der gegenwärtigen Medizin.“ Daran ändere noch so viel Forschung nichts, wenn die akademische Welt sich vor allem auf Publikationen fokussiere, die Drittmittel einwerbe, mit deren Hilfe wiederum Publikationen ohne klinische Konsequenzen erzeugt würden – zumal sich erschreckenderweise weit mehr als die Hälfte aller akademischen Arzneimittelpublikationen nicht reproduzieren lasse. „Wir glauben keiner Publikation mehr“, habe ihm jüngst der Chef eines großen Pharmaunternehmens gesagt. „Wir glauben nur den Daten, die wir inhouse generiert haben.“ Andererseits befänden sich die klinischen Professoren fest im Griff der Industrie. Bei einem Fünftel aller klinischen Studien handele es sich um Investigator Initiated Trials. Davon seien nur die Hälfte multizentrisch. Und davon wiederum würden nur gut ein Zehntel publiziert. Diese Zahlen stammen aus einer Studie des Büros für Technikfolgenabschätzung des Bundestages. Sie sind allerdings schon 15 Jahre alt.
Genetische Cluster als digitale Ausgangsbasis
„Im Moment reden alle von Digitalisierung“, sagte Schmidt. Digitalisierung allein generiere jedoch nur Effizienzgewinne. Es komme darauf an, das fundamentale Problem der fehlenden Präzision in der Medizin zu lösen. Dazu müsse man das Netzwerk aller menschlichen Erkrankungen verstehen, so wie es Albert-László Barabási schon 2004 in Nature Reviews Genetics vorgeschlagen habe. „Und hier kommt die KI ins Spiel. Denn das ist etwas, was das menschliche Gehirn niemals machen könnte.“ Barabási hatte in seiner Darstellung Risikogene miteinander vernetzt, die für mehrere Erkrankungen relevant sind. Dabei entstand nicht etwa ein regelmäßiger Maschendrahtzaun, sondern ein Gewebe verschieden großer, meist mehrfarbiger Cluster. „Dass die Cluster relativ bunt sind, bedeutet, dass genetisch zusammengehört, was wir fein säuberlich nach Organen trennen.“ Die KI-unterstützte Systemmedizin nutzt diese Cluster nun als Basis. Das zeigte Schmidt am Beispiel eines Clusters, dessen Gene mit unterschiedlichen Krankheitssymptomen assoziiert sind. „Wenn zwei Krankheiten viele Symptome gemeinsam haben, sind es vielleicht nicht zwei, sondern dieselbe.“ Zwei Genfamilien stechen aus dem beispielhaft gezeigten Cluster hervor: Eine, die für Enzyme codiert, die in cGMP-Signalkaskaden eingebunden sind, und eine, deren Proteine mit oxidativem Stress vergesellschaftet sind. „Wir haben bei diesen Erkrankungen diese Signalwege identifiziert! Mit dieser Aussage hören Genetiker normalerweise auf, denn das kann man super publizieren“, sagte Schmidt. Therapeutisch sei es aber völlig nutzlos, weil 400 Proteine kein Target lieferten. Das tieferliegende Problem sei, dass immer noch zu viele Fachleute dem Dogma glaubten, dass die Zelle über Signalwege funktioniere.
Der modulare Charakter von Protein-Protein-Interaktionen
„Natürlich gibt es cGMP-abhängiges Signaling, aber es gibt nicht den cGMP-Signalweg“ betonte Professor Schmidt. Es gebe nur viele kleine Signalmodule oder Nanodomänen, die man nicht zusammenwürfeln könne, auch wenn sie alle cGMP nutzten. „Signalwege, wie wir sie gelernt haben, existieren in dieser Form nicht. Sie entspringen unserem Bedürfnis, alles in Schubladen einzuteilen. Aber so funktioniert die Natur nicht.“ Sie funktioniere vielmehr so, wie es die avanciertesten Verfahren der Proteomik zeigten, die die Protein-Protein-Interaktionen in Einzelzellen live messen. Demnach sind Proteine intrazellulär in Modulen organisiert, über deren Verbindungen miteinander die Signaltransduktion läuft. „Wenn ich also den molekularen Mechanismus einer Erkrankung definieren will, dann muss ich die Proteine identifizieren, die in einem oder mehreren Modulen gestört sind.“ In dem von ihm gewählten Beispielcluster sei man so auf die NADPH-Oxidase 5 gestoßen, die vom NOX5-Gen codiert wird, und die Bildung aggressiven Sauerstoffs katalysiere. „Die Erkrankung heißt für uns jetzt nicht mehr Myokardinfarkt oder Bluthochdruck oder Nephropathie, sondern Hochregulation von NOX5.“ Diese Erkenntnis sei bioinformatisch mehrfach bestätigt worden. Eine klinische Studie zur Hemmung von NOX5 werde noch in diesem Jahr am Karolinska-Institut beginnen.
Das Potential der Neuverwendung bekannter Wirkstoffe
„Defekte Signalmodule werden die Basis für neue molekulare Krankheitsdefinitionen werden“, bilanzierte Schmidt. Daran arbeiteten inzwischen viele Gruppen und daraus würden präzise, kausale und kurative Therapien resultieren. Netzwerkpharmakologie sei das Stichwort für die Zukunft. Im Idealfall werde man direkt aus der Bioinformatik in die Phase II der klinischen Prüfung gehen können. Langwierige Neuentwicklungen seien voraussichtlich nicht notwendig. Unter dem Dach der europäischen Initiative RePo4EU, die er koordiniere, baue man gerade eine Drug-Repurposing-KI-Plattform auf, die im open access zugänglich ist. Repurposing sei deshalb so aussichtsreich, weil kleine Arzneistoffmoleküle weitaus promisker seien als gedacht. Durchschnittlich gebe es 32 verschiedene Targets für jeden Arzneistoff. Die Anzahl verschiedener Bindungstaschen auf unseren Proteinen sei zudem endlich und liege irgendwo zwischen 1400 und 2800. „Wir brauchen kein 2801. Arzneimittel“, sagte Schmidt zum Schluss. „Repurposing hat ein gigantisches Potential.“