„Freiheit ist ein reflexiver Prozess“

Verfassungsrechtler Udo di Fabio stellte Impfpflicht auf Prüfstand des Grundgesetzes

Zur Abkühlung der aufgeheizten Debatte um die Einführung einer allgemeinen Covid-19-Impfpflicht empfehle sich ein nüchterner Blick in die Verfassung, eröffnete Professor Udo di Fabio das Online-Perspektivengespräch über „Die Impfpflicht und das Grundgesetz“, zu dem auf Einladung des House of Pharma & Healthcare mehrere hundert Menschen zugeschaltet waren. Sorgfältig wog der Bonner Staatsrechtler und frühere Bundesverfassungsrichter Grundrechte gegen eventuelle Grundrechtseingriffe ab. Er betonte, wie schwierig es für den Gesetzgeber angesichts der enormen und fortdauernden „Beurteilungsungewissheiten“ der Pandemie sei, juristisch vertretbare „Risikoentscheidungen“ im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit zu treffen. Er selbst habe auf die Frage, ob eine Impfpflicht verfassungsrechtlich zu rechtfertigen sei, „im Laufe der jetzt fast zweijährigen Pandemie unterschiedlich geantwortet, nicht weil der Rechtsmaßstab sich verändert hätte, sondern weil es auf die Umstände des Einzelfalles und auf die akute Situation ankommt“.

Eingriff in die körperliche Unversehrtheit 

Unter bestimmten Tatbestandsvoraussetzungen, so führte di Fabio aus, sieht das Infektionsschutzgesetz schon längst eine Impfpflicht vor. Laut § 20,6 kann das Bundesgesundheitsministerium diese mit Zustimmung des Bundesrates für „bedrohte Teile der Bevölkerung“ anordnen, „wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist“. Das entspräche zwar ziemlich exakt der derzeitigen Corona-Situation. Jedoch wäre die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht „die gesetzliche Ermächtigung, in die körperliche Unversehrtheit der Menschen einzugreifen“, die ein Grundrecht gemäß Artikel 2,2 des Grundgesetzes ist. Selbst wenn die Mehrheit der Bevölkerung ihre körperliche Unversehrtheit durch eine Impfung nicht bedroht sehe, selbst wenn medizinisch feststehe, dass eine Impfung keine gefährlichen Nebenwirkungen nach sich ziehe, „dann kann die Impfpflicht dennoch ein intensiver Grundrechtseingriff für diejenigen sein, die eine Impfung partout nicht wollen“. Insofern beeinflusse „die Renitenz bestimmter Bevölkerungsgruppen gegen die Impfung tatsächlich deren grundrechtliche Bewertung“. Der Gesetzgeber brauche einen „legitimen Grund im Recht“, wenn er Corona-Schutzimpfungen als „relativ intensiven Eingriff in die körperliche und auch seelische Unversehrtheit“ anordne.

Rechtlich komplizierter als die Pockenimpfung

Auf den ersten Blick liegt dieser Grund auf der Hand: Durch jede Impfung eines Individuums wird ein höheres Schutzniveau für die gesamte Bevölkerung erreicht. Eindrucksvoll zeigte sich dieser Effekt bei der Pockenschutzpflicht. Sie führte dazu, dass die Pocken, an der in Europa einst jährlich 400.000 Menschen starben, ausgerottet wurden und die Pflicht zu einer Impfung dagegen 1983 abgeschafft werden konnte. Beim SARS-CoV-2-Virus sei die Lage aber komplizierter, sagte di Fabio. Einerseits habe man erstaunlich schnell wirksame Impfstoffe entwickelt, andererseits feststellen müssen, dass deren Schutzwirkung relativ schnell nachlasse, so dass man inzwischen schon über die eventuelle Notwendigkeit einer vierten Impfung spreche. „Ist das derselbe juristische Rechtfertigungsgrund wie bei einer Pocken- oder Masernimpfung?“

Das Gewicht der aktuellen Gesundheitsgefahr

Zu diesem Aspekt der temporären Wirksamkeit der Covid-19-Impfstoffe kommt nach Ansicht des Bonner Verfassungsrechtlers ein entscheidend wichtiges Kriterium hinzu: „Droht eine Gesundheitsgefahr von einem solchen Gewicht, dass eine Impfpflicht zu rechtfertigen oder sogar aus der Schutzpflichtverantwortung des Staates für Leben und Gesundheit der Allgemeinheit verfassungsrechtlich geboten ist?“ Eine Antwort auf diese Frage erfordere eine Beurteilung der jeweils konkreten Lage. „Insofern war es von der Bundesregierung nicht glücklich, sich bereits im Dezember festzulegen, dass demnächst eine allgemeine Impfpflicht kommt“, sagte di Fabio. „Für deren Anordnung braucht man eine situativ aktuelle Einschätzung.“ Verlässlich sei eine solche Einschätzung aber angesichts der Dynamik der Pandemie und dem damit einhergehenden ständigen Wechsel von Gewissheiten und Ungewissheiten gar nicht möglich. Ob und wie sich die Omikron-Variante mit Impfstoffen erreichen lasse und wie stark sie das Gesundheitssystem belasten werde, sei derzeit beispielsweise noch ungewiss. Hier müsse der Staat gegebenenfalls Risikoentscheidungen treffen, um zu handeln, „bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“.

Für eine operative Rationalität

Nun könne man wie der Nationale Ethikrat argumentieren, dass eine allgemeine Impfpflicht das geringere Übel und den insgesamt geringeren Freiheitseingriff im Vergleich zu einer partiellen Stilllegung der gesamten Gesellschaft durch das Virus darstelle. Das Bundesverfassungsgericht sei jedoch „mit solchen globalen Freiheitsbilanzierungen sehr zurückhaltend“. Di Fabio riet daher zu einer „operativen Rationalität“. Demnach ist eine allgemeine Impfpflicht verfassungsrechtlich nur zu rechtfertigen, wenn ein gesundheitlicher Notstand droht, weil eine erhebliche Minderheit der Bevölkerung nicht geimpft ist – und die Konjunktion „weil“ empirisch belegbar ist. 

„Fast schon masochistisch verständnisvoll“

Wenn aber auf dieser Grundlage eine Impfpflicht eingeführt wird, dann muss der Staat sie durchsetzen und für einen gleichmäßigen Gesetzesvollzug sorgen. „Andernfalls verstößt er möglicherweise gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung“, sagte di Fabio. „Insofern muss man dem Gesetzgeber, der zu symbolischen, aber nicht durchgesetzten Pflichten neigt, hier eine Warnkarte präsentieren“. Unmittelbaren Zwang zur Vollstreckung einer Impfpflicht anzuwenden, halte er jedoch für verfassungswidrig. Ein Bußgeld zu verhängen, sei dagegen möglich. Aber schon die Frage, ob man ein solches Bußgeld bei Zahlungsverweigerung kaskadenförmig steigern dürfe, wie es im Verwaltungsrecht häufig gemacht werde, werfe verfassungsrechtliche Zweifel auf, ob das nicht die Zumutbarkeitsschwelle überschreite. Die innere Einstellung von Impfgegnern könne eben nicht einfach übergangen werden. „Impfgegner haben mich bedroht, weil ich heute hier einen Vortrag halte und sie vermuten, dass ich mich für eine Impfpflicht aussprechen würde, und deshalb sind sie schon hell empört, und über diese dauerempörten Menschen kann man sich nun wiederum empören und sagen: geht's noch?“, wurde di Fabio an dieser Stelle deutlich. „Aber verfassungsrechtlich sind wir da in einer fast schon masochistischen Weise verständnisvoll.“

Besser mit offenem Visier

Als „verfassungsrechtlich schwierig“ beurteilte di Fabio die bestehenden Zugangsrestriktionen für Ungeimpfte im „öffentlichen Begegnungsraum“. Denn diese stellten eine indirekte Impfpflicht dar. „Sie ist nirgendwo aufgeschrieben, aber der Gesetzgeber agiert so, als gäbe es sie bereits.“ Besser wäre er beraten, hier mit „offenem Visier“ aufzutreten. Denn mit Blick auf den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz gleiche die gegenwärtige Regelung einem „Spiel über die Bande, das nicht nur Begeisterung auslöst“. Selbstverständlich könnten ungeimpfte Menschen die Gerichte anrufen, um diese Regelung auf den Prüfstand des Verfassungsrechtes stellen zu lassen. „Sie können sich darauf verlassen, dass die Gerichte das prüfen werden, aber natürlich nicht darauf, dass sie ihnen recht geben.“

„Könnte es sein, dass ich mich irre?“

Den vornehmsten Platz im Denken des Staatsrechtlers Udo di Fabio nimmt, auch hinsichtlich des Umganges mit der Pandemie, der Begriff der Freiheit ein. „Der Weg der freiheitlichen Gesellschaft geht über das Bewusstsein und die Urteilskraft der Menschen“, sagte er. „Aufklärung und Bildung sind langfristig am wirksamsten, auch was die Impfbereitschaft angeht.“ Wenn der Staat oft als Antipode der Freiheit wahrgenommen werde, so treffe dies für seine liberal verfassten Formen nicht zu. „Unsere Verfassungsvorstellung geht davon aus, dass der Staat uns die Rahmenbedingungen zur freien Entfaltung schafft.“ Was die Bürgerinnen und Bürger aber aus dieser Freiheit machten, das stehe nicht in der Verfassung. „Das kann ihnen keine Richterin und kein Richter sagen.“ Jeder müsse sich selbst fragen, wie er mit seiner Freiheit umgehe. „Aber wenn wir unsere Freiheit leben und ausleben, müssen wir die anderen als Einzelpersonen und als Gemeinschaft schon mit auf dem Radarschirm haben“. Impfskeptiker müssten sich fragen: „Warum glaubt eigentlich eine sehr große Mehrheit, dass die Impfung etwas bringt? Könnte es sein, dass ich mich irre?“ Umgekehrt sollten Impfbefürworter die Ansichten von Menschen ernst nehmen, die kritisch gegenüber der Schulmedizin eingestellt sind und einseitig naturwissenschaftliche Weltdeutungen ablehnen. „Es geht darum, die Persönlichkeit zu achten, die hinter einer Ansicht steht.“ Solche wechselseitige Achtung sei das Lebenselixier jeder pluralen Gesellschaft. „Freiheit ist ein reflexiver Prozess in unserem Kopf“, betonte di Fabio. Dessen Ergebnis sei nicht vorgezeichnet und immer auch interaktiv mit anderen zu diskutieren. Dieser offene Reflexionsprozess sei in einer lebendigen Demokratie ganz wichtig. Andernfalls drohten Diskussionsabrisse und in deren Folge Fragmentierungen der Gesellschaft. „Darunter leidet letztlich die Freiheit.“

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