Ein Binnenmarkt für Gesundheitsdaten

Wichtiges Ziel der deutschen EU-Ratspräsidentschaft „sollte so schnell wie möglich Wirklichkeit werden“

Der Aufbau eines europäischen Gesundheitsdatenraumes ist eines der drei gesundheitspolitischen Ziele, an deren Realisierung die Bundesregierung im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 arbeitet. „Ein solcher gemeinsamer Datenraum ist kein Selbstzweck“, betonte der Leiter der Abteilung Digitalisierung und Innovation des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), Dr. Gottfried Ludewig. „Er bietet vielmehr die Grundlage für eine bessere Medizin.“ Auf Einladung der Initiative Gesundheitswirtschaft Hessen und des House of Pharma & Healthcare sprach Ludewig bei der virtuellen Konferenz „Der Europäische Daten(t)raum – Hemmnisse und Lösungen für eine europäische Datenstrategie“, die von Tagesspiegel-Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff moderiert wurde.  „Es ist ein Traum, der so schnell wie möglich Wirklichkeit werden sollte, von der elektronischen Krankenakte bis hin zur Verfügbarkeit klinischer Daten für Forschung und Entwicklung“, sagte zur Eröffnung Professor Jochen Maas, Vizepräsident des House of Pharma & Healthcare. „Das digitale Versorgungsgesetz hat in Deutschland die Tür dazu immerhin einen Spalt weit geöffnet.“ Allerdings halte er es für ungerecht, dass dieses Gesetz akademischen Einrichtungen die Nutzung klinischer Daten erlaube, Privatunternehmen hingegen nicht.

 

Den Nutzen in den Mittelpunkt stellen 

Das sei eine Entscheidung des Parlaments, die sich vorerst kaum ändern lasse, entgegnete Gottfried Ludewig, plädierte aber andererseits vehement dafür, den Nutzen des Datengebrauchs in den Mittelpunkt zu stellen und wegzukommen vom Primat der Sorge um möglichen Datenmissbrauch. „Wir diskutieren zu häufig zuerst, wie wir die Datennutzung regulieren können, anstatt die Daten in einem ersten Schritt zunächst einmal zu nutzen.“ Drei Hauptaufgaben benannte der BMG-Abteilungsleiter, um den Weg zu einem europäischen Datenraum zu ebnen: Einen europaweit konformen „Code of Conduct“ für die Auslegung  der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DGSVO); einheitliche Standards für die Datenqualität und -interoperabilität sowie die Schaffung und Kommunikation konkreter Fallbeispiele (Use Cases), die zeigten, dass die Nutzung von Gesundheitsdaten tatsächlich medizinische Vorteile bringt. „Die DGSVO ist gut, weil sie für ganz Europa denselben Rechtsrahmen bietet, aber ihre Auslegung ist derzeit von Staat zu Staat sehr unterschiedlich.“ Das erschwere die Verknüpfung von Datensätzen und erzeuge Unsicherheit, wie sie für die Forschung genutzt werden dürften. Überdies hätten medizinische Datensätze quer durch Europa oft noch ein so unterschiedliches Format, dass sie nicht sinnvoll verknüpft und verarbeitet werden könnten. 

 

Kein Anfang muss perfekt sein 

Dennoch sollten gerade wir Deutschen „unseren Hang zum Perfektionismus ablegen und begeistert beginnen“, sagte Ludewig. Es komme darauf an, schnell positive Anwendungen datengestützter Medizin aufzubauen und zu demonstrieren. „Sie helfen uns, das Vertrauen in die Datennutzung im Gesundheitswesen zu stärken, es hilft nichts, wenn wir das auf einer abstrakten Ebene diskutieren.“ Als Beispiel dafür, dass „die Medizin auf der Basis von Datenanalysen die optimale Therapie für jeden Patienten finden kann“, nannte er das am Heidelberger Hopp-Kindertumorzentrum laufende Gendiagnostik-Programm INFORM, in dem seit 2015 Hilfe für mehr als 1.500 krebskranke Kinder aus elf europäischen Ländern gesucht worden ist, bei denen die Standardtherapien ausgeschöpft waren. Bei einem erheblichen Anteil dieser Kinder und Jugendlichen habe man eine molekulare Zielstruktur entdecken können, die Grundlage für eine zielgerichtete Therapie geboten habe. 

 

Vorteile des Datenaustausches kommunizieren

Ein vergleichbares Beispiel aus der Erwachsenenmedizin steuerte Professor Roland Eils bei, der viele Jahre lang am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg geforscht hatte, bevor er 2018 zum Gründungsdirektor des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung berufen wurde. Die genetische Sequenzierung der Tumoren von 1382 austherapierten Patienten und deren Zuordnung zu sieben verschiedenen molekularen Interventionskategorien habe es ermöglicht, für 83 Prozent der Patienten neue gezielte Therapien zu finden. Fast die Hälfte dieser Patienten habe auf diese Therapien angesprochen oder durch sie eine Krankheitsstabilisierung erfahren. Die Vorteile des Datenaustausches erlebe man derzeit auch besonders stark bei der Erforschung von Covid-19, für die die deutschen Universitätsklinika auf einer zentralen Plattform Daten aus der gesamten Republik zusammenführten. Dadurch sei es Forschern aus Berlin, Leipzig und Heidelberg beispielsweise gelungen, aus der gemeinsamen genetischen Analyse von 180.000 Einzelzellen von Covid-19-Patienten die Erkenntnis abzuleiten, dass die Schwere der Erkrankungen mit überschießenden Immunreaktionen korreliert. Ein Befund, der so wichtig war, dass er es auf den Titel von „Nature Biotechnology“ schaffte. 

Von den Experimenten der Natur lernen

„Für viele komplexe Krankheiten sind wir von einem umfassenden mechanistischen Verständnis noch weit entfernt“, sagte Dr. Lars Greiffenberg, Leiter der digitalen Forschung bei AbbVie Deutschland. „Mit der Datenbasis und den Analyseverfahren, über die wir heute verfügen, haben wir zwar gegen viele weniger komplexe Krankheiten gute und sichere Medikamente entwickelt, aber diese greifen fast immer bei der Symptomatik an. Wenn wir den Anspruch haben, präventiv oder heilend näher zur Ursache zu kommen, dann stellen uns auch einfache Krankheiten vor komplexe Probleme.“ Um solche Probleme zu lösen, bedürfe es, in der Medizin ganz ähnlich wie in der Meteorologie, der Analyse vielfältiger und großer Datenmengen. „Wir brauchen unbedingt auch Daten von gesunden Menschen.“ Denn daraus könne man lernen, wie Krankheiten zu vermeiden oder zu bekämpfen seien. „Die Natur macht durch Mutationen viele Experimente mit verschiedenem Ausgang. Die negativen sehen wir in der Klinik. Aber was ist mit den positiven?“

 

Keine Alternative zur Zusammenarbeit 

Kein Unternehmen alleine verfüge bei komplexen Krankheiten über die Datenmenge, um die jeweilige Krankheit zu verstehen, sagte Greiffenberg. „Wir haben also keine Alternative als zusammenzuarbeiten“. Wie effektiv das sei, zeige sich jetzt während der Coronakrise: „Die großen Pharmaunternehmen, die ihre Daten bisher nie geteilt haben, arbeiten in einem Umfang zusammen, den es noch nie vorher gegeben hat.“ Pharmaunternehmen seien für acht von zehn klinischen Studien verantwortlich, sagte Jochen Maas. Insofern sei es im Interesse von Wissenschaft wie von Patienten, dass sie möglichst viele Daten in anonymisierter Form nutzen könnten. „Ich bin überzeugt, dass wir allein durch die intelligente Nutzung von klinischen Daten und ohne einen einigen nasschemischen Versuch in der Lage sein werden, bisher unbekannte molekulare Angriffspunkte für neue Medikamente im Organismus zu entdecken.“

 

Transparenz ist eine Zweibahnstraße 

 

Die Sammlung von Daten dürfe man „nicht am Patienten vorbei tun“, mahnte Dr. Martin Danner, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe. Er schlug deshalb auch auf europäischer Ebene die Einrichtung einer „Forschungsdatenstelle“ vor, die dafür sorgen solle, dass projektbezogen nur „die für die Zwecksetzung notwendigen Daten“ zusammengetragen und abgerufen würden. Unter diesen Umständen hätte er nichts dagegen einzuwenden, dass die private Industrieforschung partizipiere. Generell seien die Patientenverbände offen für die Themen Digitalisierung und Datennutzung, hätten aber ihre volle Sprachfähigkeit auch deshalb noch nicht gewonnen, weil „Vieles in Fachkreisen jahrelang hin- und hergewälzt wurde, wie zum Beispiel die elektronische Patientenakte, ohne dass etwas Reales dabei herauskam, was die Bürger diskutieren konnten“. Wenn man im Übrigen darüber spreche, ob und wie es für Patienten transparent sein sollte, was mit ihren Daten geschieht, so wolle er darauf hinweisen, dass es eine Transparenz auch in umgekehrter Richtung geben müsse: „Die meisten Patienten wissen heutzutage gar nicht, wie die Qualifikation und Ausstattung ihrer Behandler ist. Es würde einen Quantensprung bedeuten, die Qualität der Leistungserbringung im Gesundheitswesen transparent zu machen und damit das Matching zwischen einem Patienten und seinen Behandlungsoptionen zu optimieren.“

 

Dem Föderalismus Rechnung tragen 

Wenngleich Europa im Zentrum der Diskussion um einen gemeinsamen Datenraum stand, so schoben sich doch immer wieder die Hürden des deutschen Föderalismus in den Vordergrund der Erörterung. Es sei eine „stille Revolution“ gewesen, sagte Roland Eils, „dass wir es geschafft haben, ein Netzwerk zu bilden, das auf Bundesebene Gesundheitsdaten zusammenführt und interoperabel macht und für Forschungsfragen weiterentwickelt“, so etwa bei der Entwicklung eines einheitlichen Einwilligungsformulares für die Erhebung von Gesundheitsdaten. Andererseits müsse er aus seinen „leidvollen Erfahrungen in der Medizin-Informatik-Initiative, wo wir ständig mit 16 Landesdatenschutzbeauftragten verhandeln“ sagen: „Wir werden es nie schaffen, ein einheitliches Bundesdatenschutzgesetz zu haben." 

 

 

 

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