Alle Länder der Erde sind von Arzneimittelfälschungen betroffen, wobei es eine breite Grauzone zwischen krimineller Absicht und nachlässiger Qualitätskontrolle gibt. In Ländern mit mittlerem und geringem Einkommen ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedes zehnte Arzneimittel gefälscht oder fehlerhaft. Am häufigsten betroffen sind Antimalariamittel und Antibiotika, was nach Schätzungen der WHO vor allem in Afrika und Südamerika zu weit mehr als Hunderttausend Todesfällen pro Jahr führt. Sehr oft werden auch Potenzmittel, Schmerz- und Betäubungsmittel sowie Krebsmedikamente gefälscht, sei es als nicht autorisierte Kopien des Originals, als Produkte ohne Wirkstoff, mit falschem Wirkstoff, falschem Wirkstoffgehalt oder mit gefälschtem Verfallsdatum oder hohen Verunreinigungen. In den reichen Ländern der westlichen Welt sind schätzungsweise ein Prozent der Arzneimittel in der legalen Vertriebskette gefälscht – mit steigender Tendenz. Besonders viel riskiert, wer seine Medikamente über das Internet bezieht. Denn im Online-Handel beträgt der Fälschungsanteil weltweit 50 Prozent. Mit dieser Bestandsaufnahme eröffnete Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin für Pharmazeutische und Medizinische Chemie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, ihren Online-Vortrag „Original oder Fälschung?“, zu dem das House of Pharma & Healthcare zusammen mit der Stiftung für Arzneimittelsicherheit eingeladen hatte. Dabei wies die Referentin auf die bemerkenswerte Tatsache hin, dass der Handel mit gefälschten Arzneimitteln profitabler als der Drogenhandel ist – und zudem weniger riskant, weil sowohl die Aufklärungsquoten als auch die Strafen dafür geringer seien.
Ertragreiche Fangzüge von Interpol
Das lukrative Geschäft mit gefälschten Arzneimitteln sei auch eine Folge der Globalisierung, sagte Ulrike Holzgrabe. „Die Herstellung jedes Arzneimittels ist ein internationaler Prozess und wir schippern dafür alles um die Welt.“ Wirkstoffe aus China und Indien, Hilfsstoffe aus Südamerika, weil das häufig Naturstoffe sind, überall Großhändler, überall Apotheken, auf diese Weise sei es ganz einfach, eine Fälschung in den normalen Kreislauf einzuführen. Früher habe sie zum Beispiel gesagt: „Wo Ciprobay draufsteht, ist auch ganz allein Ciprobay drin. Da ist Ciprofloxacin drin und Bayer hat die Synthese von ganz vorne angefangen und zum Schluss die Tabletten ausgeliefert. Aber das gilt schon lange nicht mehr.“ Seit 2008 führe Interpol jedes Jahr eine einwöchige Großaktion gegen Arzneimittelkriminalität durch, wobei vor allem der Online-Handel im Visier sei. 2023 hätten sich 89 Länder daran beteiligt, Deutschland erstaunlicherweise nicht. Das Ergebnis: 1300 Webseiten seien geschlossen, 72 Personen verhaftet, pharmazeutische Produkte im Wert von sieben Millionen US-Dollar beschlagnahmt worden, die Mehrzahl davon illegal vertriebene Mittel gegen erektile Dysfunktion, Psychopharmaka und Sexualhormone, wie sie typischerweise in der Bodybuilderszene „vertickt“ würden.
Die Stärken und Schwächen des Securpharm-Systems
Zum Schutz der Patienten vor gefälschten Arzneimitteln in der legalen Lieferkette wurde im Februar 2019 europaweit das Securpharm-System eingeführt. Jedes verschreibungspflichtige Arzneimittel trägt seitdem auf seiner Verpackung einen vom Hersteller aufgedruckten digitalen Data Matrix-Code. Mit dessen Hilfe gleichen Apotheken jede Einzelpackung vor der Abgabe an einen Patienten mit den Angaben des Herstellers ab, und buchen sie im Fall einer Verifikation aus. Scheitert diese End-to-End-Verifikation, wird die Packung zurückgehalten und ihre Herkunft überprüft, auch beim Großhandel, der nicht von vorneherein in das Securpharm-System eingeschlossen ist. „ Securpharm ist kein Trace-and-Track-System“, betonte Holzgrabe. „Zu keinem Zeitpunkt kann also festgestellt werden, wo sich eine Packung auf dem Weg vom Hersteller über den Großhandel bis zum Patienten gerade befindet.“ Das mache es eher unwahrscheinlich, alle Fälschungen zu finden. Noch schwerer wiege aber, das Securpharm nur den Weg der Verpackung prüfe. „Woher der Arzneistoff kommt, den der Hersteller formuliert und verpackt, prüft es nicht. Es entdeckt also keine Ausgangsstoffe schlechter Qualität.“
Immerhin lässt sich mit Hilfe von Securpharm aber der Code eines gestohlenen Arzneimittels deaktivieren. Eine Produktpiraterie, wie sie 2014 im Falle von Trastuzumab für Aufsehen gesorgt hatte, würde heute somit beim Auslesen in der Apotheke sofort entlarvt werden. Damals hatten italienische Großhändler und Krankenhäuser gestohlene Beutel mit dem lösbaren Pulver des Krebsmedikamentes gestohlen und diese anschließend mit teils falschem und mangelhaften Inhalt in die legale Vertriebskette eingeschleust. Andererseits gelingt es Fälschern offenbar immer wieder, das Securpharm-System zu umgehen. So wurden etwa im Sommer 2023 im Zuge des Hypes um die „Abnehmspritze“ Fälschungen von Ozempic®-Pens in Umlauf gebracht, die Insulin Glargin statt Semaglutid enthielten und massive Unterzuckerungen auslösten. Die Fälschungen wurden entdeckt, nachdem Apotheker Packungen geöffnet und darin anders geformte Pens vorgefunden hatten.
Der lebensgefährliche Dauerbrenner Diethylenglykol
Welchen Gesundheitsgefahren Arzneimittelfälscher Patienten aussetzen, zeigt sich besonders krass am Beispiel des Diethylenglykol. Immer wieder wird es Lebens- und Arzneimitteln zugesetzt, wenngleich spätestens seit den 1930er Jahren bekannt ist, welch katastrophale Folgen das haben kann. Im Wettlauf darum, sich möglichst große Marktanteile für die gerade als antibakterielle Substanzen entdeckten Sulfonamide zu sichern, hatte die amerikanische Firma Massengill damals versucht, einen Sulfanilamid-Sirup herzustellen. Weil Sulfonamide schlecht löslich sind und bitter schmecken, entschied sich ihr Chemiker für eine Rezeptur aus 10 Prozent Wirkstoff, 16 Prozent Wasser und 72 Prozent des Lösungsmittels Diethylenglykol, versetzt mit einem Prozent von Himbeer-Extrakt und anderen Aromen. 112 Kinder starben an diesem Sirup, weil Diethylenglykol bei ihnen Nierenversagen und Leberschäden verursacht hatte. Der verantwortliche Chemiker beging Selbstmord, der Firmenchef wusch seine Hände in Unschuld. Weil auch Paracetamol-Säfte schlecht löslich sind, wird ihnen bis heute manchmal Diethylenglykol zugesetzt. Häufig taucht es auch als unbeabsichtigte Verunreinigung des Hilfsstoffs Glycerin auf. Die amerikanische Zulassungsbehörde fordert deshalb, dass kein Glycerin-enthaltendes Arzneimittel mehr als 0,1 Prozent Diethylenglykol enthalten darf. Darum scheren sich Arzneimittelfälscher wenig, wie Ulrike Holzgrabe an vielen Beispielen zeigte. In Kamerun etwa wurden 2023 im Paracetamol-Saft eines englischen Herstellers 29 Prozent Diethylenglykol gefunden. „Ein Löffel davon kann für ein Kind tödlich sein.“
Gewissensloses Geschäft mit HIV-Patienten
Ein äußerst dreistes Geschäftsmodell hatte sich ein Arzneimittelfälscher jüngst in den USA ausgedacht, wie Holzgrabe berichtete. Zum Vertrieb gefälschter Präparate und Kombinationspräparate zur HIV-Behandlung hatte er eigens einen Großhandel gegründet. Seine Ware – ihr Wert belief sich auf 250 Millionen US-Dollar, als sein Betrug aufflog – hatte er sich aus einem Netzwerk von Menschen mit geringem Einkommen beschafft, die er dadurch ein Zubrot verdienen ließ. Diese Menschen wurden in einer Arztpraxis mit der Behauptung vorstellig, sie litten an einer HIV-Infektion und bräuchten eine entsprechende Behandlung. Die Präparate, die sie daraufhin, wenn der Arzt ihnen glaubte, was offenbar nicht selten vorkam, verordnet bekamen, verkauften sie an den kriminellen Großhändler. Dieser Mann gelangte so in den Besitz korrekter Serialisierungsnummern, die er für den Vertrieb von Präparaten nutzte, die keinen oder einen anderen Arzneistoff enthielten. Weil den Herstellerfirmen der Vertrieb dieser Fälschungen auffiel, konnte dieser Mann gefasst und im Juni 2023 verurteilt werden.
Der beste Schutz: Die heimische Apotheke
Generell häufen sich Fälschungen dann, wenn ein bestimmtes Arzneimittel stark nachgefragt ist und knapp wird. So geschehen mit Ciprobay®-Fälschungen in den Monaten nach dem Terror des 11. September 2001, als Folgeterror mit Milzbrandbakterien befürchtet wurde, gegen den man sich mit Gyrasehemmern schützen wollte. So geschehen mit Tamiflu®, als in den Jahren 2006/2007 eine Schweinegrippe-Pandemie drohte. So geschehen mit Chloroquin als erhofftes Mittel gegen SARS-CoV-2 während der ersten Monate der COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020. Original und Fälschung seien nicht immer leicht zu unterscheiden, unterstrich Ulrike Holzgrabe abschließend. Am besten könne man sich dagegen schützen, indem man seine Arzneimittel aus möglichst sicheren Quellen beziehe – und das sei an erster Stelle die Apotheke vor Ort.