Deutschland fehlt eine Strategie gegen Wirkstoffabhängigkeit

Podium bei der 12. Jahrestagung des House of Pharma & Healthcare diskutiert über Lösungsansätze zur Überwindung von Lieferengpässen

Die deutsche Gesundheitspolitik tut sich schwer damit, in ihrem Denken und Handeln betriebswirtschaftliche Prinzipien zu berücksichtigen. Das wurde bei der Podiumsdiskussion zum Thema „Lieferengpässe und Arzneimittelmangel“ anlässlich der 12. Jahrestagung des House of Pharma & Healthcare deutlich. „Risikomanagement in Lieferketten ist ja kein neues Thema“, sagte Richard Pibernik. „Das macht Apple längst mit seinen iphones. Das beschäftigt immer mehr Unternehmen.“ Dafür müsse man Transparenz schaffen, Risiken identifizieren und klar definieren, woran es nicht mangeln dürfe. Dafür müsse man strategisch denken, betonte der Würzburger Professor für Logistik und Quantitative Methoden in der Betriebswirtschaftslehre. In einem Gesundheitssystem, in dem der Staat so stark steuernd in den Arzneimittelmarkt eingreift, sind die Rahmenbedingungen dafür auch eine Aufgabe der Politik. Die behilft sich aber vorerst mit Übergangslösungen wie dem sperrig benannten „Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz“ (ALBVVG). „Wir sind bei Wirkstoffen für Arzneimittel von China abhängig, das ist geopolitisch ähnlich gefährlich wie einst die Abhängigkeit von russischem Gas“, warnte Pibernik. „Aber wir haben keine Strategie dagegen. Wir sind total blank.“

Noch ist kein Patient zu Schaden gekommen

Das bekommt eine Apotheke wie die des Universitätsklinikums Freiburg zu spüren. Die Lage habe sich gegenüber dem vergangenen Winter noch verschlimmert, sagte deren Direktor Professor Martin Hug. „Wir hatten bei uns Ende August 500 dokumentierte Lieferengpässe“, sagte er. „Hochgerechnet komme ich bis Ende des Jahres also auf 750, 20 Prozent mehr als im vergangenen Jahr.“ Das sei für ihn und sein Team eine große Belastung, aber bisher habe man zum Glück noch immer Lösungen gefunden, die verhindert hätten, dass Patienten zu Schaden kamen. Am häufigsten mangelt es im Universitätsklinikum Freiburg an Infusionslösungen. „Von einer bestimmten Elektrolytlösung, die jetzt gerade in short supply ist, verbrauchen wir in zwei Wochen zwölf Paletten, das wäre ungefähr die Länge dieser Bühne“, veranschaulichte Hug seinen Bedarf. Das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) führe in seiner Mangelliste dagegen an erster Stelle auf das Nervensystem wirkende Medikamente wie Schmerzmittel, Antiepileptika, Parkinsonpräparate. An zweiter Stelle stehen in beiden Aufstellungen des Arzneimittelmangels Anti-Infektiva, hauptsächlich Antibiotika. „Ein bei schweren Infektionen eingesetztes Monopräparat ist derzeit auf dem Markt überhaupt nicht zu bekommen“, sagte Hug. „Wir müssen auf das breit wirksame Kombinationspräparat wechseln, also tatsächlich die schlechtere Wahl treffen.“ Dass es einmal so weit kommen würde, hätte er sich nicht träumen lassen.


Versorgungskrisen vorausschauend vermeiden

In dieser Situation biete das ALBVVG immerhin „einen ersten Ansatz“, indem es die Krankenkassen dazu verpflichte, ihre Ausschreibungen so zu gestalten, dass Unternehmen, die die Wirkstoffe für die Herstellung von Antibiotika von einem europäischen Produzenten beziehen, mengenmäßig mindestens die Hälfte aller Zuschläge erhalten, sagte Stada-Managerin Ingrid Blumenthal, die auch als stv. Vorsitzende des Bundesverbandes Pro Generika fungiert. Es sei zu hoffen, dass Ähnliches zukünftig auch für andere versorgungskritische generische Wirkstoffe vorgeschrieben werde. „Wenn die Versorgungskrise sich bereits abzeichnet, dann ist es aber immer schon zu spät“, betonte Blumenthal. Wie wichtig vorausschauendes Handeln wäre, zeigte sie am Beispiel des Brustkrebsmedikamentes Tamoxifen auf, für das es 2021 in Deutschland zu einem Lieferengpass kam. „Früher gab es weltweit zehn Anbieter für Tamoxifen, 2021 waren es noch fünf. Davon sind inzwischen drei weitere aus dem Markt gegangen.“ Ob Deutschland sicher mit diesem Medikament versorgt werden könne, hänge inzwischen von einem einzigen asiatischen Wirkstoffhersteller ab. „Und wir als Unternehmen haben als Erlös einen Cent pro Tablette.“ Blumenthal mahnte eine Deregulierung und bessere Vergütung des Generikabereiches an, um solche Marktverengungen zu vermeiden. Es dürfe nicht sein, dass wie derzeit in Deutschland auf Generika 79,1% aller Arzneimittelverordnungen, aber nur 7,2% aller Arzneimittelausgaben entfielen, weil es ein Geflecht von Festbeträgen, Preismoratorien und exklusiven Rabattverträgen gebe, bei denen jeweils nur ein Anbieter das Los gewinnen könne.


Ein regulierter Markt sorgt für soziale Gerechtigkeit

„Ich halte es nicht für verwerflich, dass wir sorgsam mit dem Geld umgehen, mit dem wir ein gutes Gesundheitssystem finanzieren“, entgegnete Gabriele Katzmarek, Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion. Zweifelsohne habe Deutschland einen regulierten Arzneimittelmarkt. „Aber der ermöglicht eben auch allen Menschen den Zugang zu den Arzneimitteln, die sie brauchen. Das ist der Unterschied zu Ländern wie den USA, wo sie Arzneimittel aus eigener Tasche bezahlen müssen.“ Diesen Vorteil der sozialen Gerechtigkeit dürfe man nicht unterschlagen, wenn man das deutsche Gesundheitssystem kritisiere. Auch sei möglicherweise „nicht alles, was fehlt, so lebenswichtig“, sagte Katzmarek. „Wir müssen anfangen zu definieren, was wir brauchen – und da gehört ein Brustkrebsmittel selbstverständlich dazu. Es darf nicht wahr sein, dass in einem Land wie Deutschland so etwas nicht zur Verfügung steht, das ist ein Skandal ohnegleichen.“ Folglich gelte es, die Ursachen herauszufinden und zu fragen, „wie bekommen wir ein Stück garantierte Produktion und Wertschöpfung zurück“ nach Europa, ohne die Globalisierung dadurch ganz zurückzudrehen. „Es reicht nicht zu sagen, jetzt geben wir mehr Geld ins Gesundheitssystem hinein.“


Kein Geld in eine Blackbox pumpen

Genau das tue Gesundheitsminister Lauterbach aber doch, wenn er im ALBVVG die Möglichkeit vorsehe, den Festbetrag für versorgungskritische Wirkstoffe vorübergehend um 50 % anzuheben, wandte Pibernik ein. „Damit pumpen wir Geld in eine Blackbox, die auch die meisten Unternehmen gar nicht verstehen, und hoffen, dass dadurch irgendwo in dieser globalisierten Welt etwas passiert und auf magische Weise mehr Angebot da ist.“ Das Einzige, was dadurch passieren werde, sei aber eine Verschiebung des Engpasses von einem Land ins nächste. „Fiebersäfte gab es bisher immer noch in den Niederlanden. Wenn wir in Deutschland mehr dafür zahlen, wird der nächste Engpass dort sein.“ Zielführender wäre es, Anreize zu bieten, um die Lieferkette robuster zu machen. Martin Hug wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die asiatischen Wirkstoffproduzenten am Anfang der Lieferkette keine Vorräte aufbauten, weil sie mit äußerst geringen Margen arbeiten. „Wenn ich wenig Geld mit einem Wirkstoff verdiene, warum sollte ich einen riesigen Lagerbestand hinlegen, wenn ich gar nicht weiß, ob ich das in der nächsten Saison verkaufe.“


Gleichgewicht zwischen Kosten und Risiko herstellen

Hug machte auch darauf aufmerksam, dass Lieferengpässe kein spezifisch deutsches, sondern ein weltweites Problem seien, nicht allein wegen der Mono- oder Oligopolisierung der Wirkstoffproduktion, sondern auch wegen der deutlich gestiegenen Nachfrage in vielen Schwellenländern, die bereit seien, höhere Preise als früher zu zahlen. Hinzu kämen regulatorische Anforderungen, die es den Unternehmen erschwerten, ihre Produktion im Bedarfsfall schnell hochzufahren. „Die Gründe für die Versorgungsengpässe sind vielfältig“, sagte Ingrid Blumenthal. „Wenn wir nur an einer Schraube drehen, werden wir das Problem nicht lösen.“ Deshalb sei es so wichtig, dass im Beirat des BfArM alle Stakeholder vertreten seien. Der entscheidende erste Schritt bestehe darin, festzustellen, welche Arzneimittel lebenswichtig seien, stimmte Richard Pibernik Gabirele Katzmarek zu. Habe man sich darauf verständigt, könne man zwischen verschiedenen Maßnahmen wählen. Man könne zum Beispiel deutschland- oder EU-weit Reserven aufbauen, wie es die USA mit ihrem Strategic National Stockpile täten. Man könne geschicktere Vereinbarungen treffen, mit denen man weg von Rabattverträgen und Exklusivverträgen komme. Und man müsse durch Diversifikation Abhängigkeiten reduzieren. Der Instrumentenkasten sei da. Kostenlos könne er freilich nicht zum Einsatz kommen. „Aber momentan sind wir am Kostenminimum und am Risikomaximum. Wir sollten zwischen beiden Polen schnell wieder eine gesunde Balance finden.“

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