Der weite Weg einer Innovation in die Praxis

Friday Talk über die Einführung von CAR-T-Zelltherapien

Viereinhalb Jahre sind vergangen, seitdem die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) die ersten Therapien mit CAR-T-Zellen (chimeric antigen receptor T-cells) für bestimmte Formen von Blut- und Lymphdrüsenkrebs zugelassen hat. Es handelt sich um perfekt personalisierte Therapien, die sehr teuer sind. Einem schwerstkranken Patienten werden T-Zellen seines Immunsystems entnommen und gentechnisch so verändert, dass sie nach Re-Infusion seine Krebszellen ausschalten können. Inzwischen hat die EMA sechs CAR-T-Zelltherapien von vier Firmen zugelassen. Welche Herausforderungen sich einem etablierten Gesundheitssystem stellen, wenn es gilt, eine solch wahrhaft innovative Technologie in die klinische Praxis umzusetzen, erläuterte Dr. Karsten Kissel in einem Friday talk im Rahmen des berufsbegleitenden Studiengangs zum Master of Pharmaceutical Business Administration am Beispiel Deutschlands. Kissel leitet die medizinische Abteilung der deutschen Tochtergesellschaft von Gilead Sciences, die mit Yescarta® und Tecartus® zwei CAR-T-Zelltherapien vertreibt.

 

Medikament oder Verfahren?

Regulatorisch habe sich anfangs die grundsätzliche Frage gestellt, so Kissel, ob CAR-T-Zelltherapien als Medikamente oder als Verfahren eingestuft werden. Verfahrensintensiv sind diese Therapien in dreierlei Hinsicht: In einer Apherese werden einem Patienten zunächst extrakorporal T-Zellen entnommen. Anschließend werden diese Zellen an den Produktionsstandort des jeweiligen Pharmaunternehmens transportiert und dort gentechnisch so verändert, dass sie einen Rezeptor exprimieren, der gegen ein für ihren Tumor spezifisches Antigen gerichtet ist. Dann werden die Zellen expandiert und in einen Infusionsbeutel verpackt, der im Falle von Yescarta® eine patientenspezifische Dispersion für eine Zieldosis von zwei Millionen CAR-T-Zellen pro Kilogramm Körpergewicht enthält. Es dauert drei bis vier Wochen, bis dieser Herstellungsvorgang abgeschlossen und der Infusionsbeutel mit an das Krankenhaus zurückgeschickt worden ist, wo dem Patienten seine eigenen CAR-T-Zellen verabreicht werden. Die Zellen vermehren sich im Körper des Patienten, deshalb reicht eine einzige Infusion. Trotz dieser aufwändigen Prozeduren gelten CAR-T-Therapien als Arzneimittel, nämlich als Advanced Therapy Medicinal Products, wie die EMA schon 2009 festlegte. Es klinge vielleicht beängstigend, sagte Kissel, dass CAR-T-Zellen auch als genetisch modifizierte Organismen (GMO) betrachtet werden könnten. Allerdings würden sie stets ihrem Spender zurück infundiert und wären in der Umwelt ohnehin nicht überlebensfähig. Bei der Genehmigung von klinischen Studien mit CAR-T-Zellen zum Beispiel arbeiten das Paul Ehrlich-Institut und das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit zusammen, um die „Freisetzung von GMO“ für diesen Zweck zu genehmigen.


Komplikationen der Kostenerstattung

Die Bezahlung von CAR-T-Therapien wird nach den Worten von Karsten Kissel dadurch verkompliziert, dass „etwas wirklich Seltsames mit dem Kostenerstattungssystem gemacht wurde“, indem man nämlich das ambulante AMNOG-Verfahren ohne Anpassung auf den Krankenhausbereich übertrug, so dass die CAR-T-Preise dort zwar gemäß dem AMNOG bestimmt werden, einer CAR-T-Therapie dennoch gleichzeitig der Status einer Neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode (NUB) zuerkannt sein muss, der typisch für das Regelwerk der stationären Kostenerstattung ist. Kein Konsens sei bisher zudem darüber erzielt worden, ob die Apherese als Teil der Behandlung oder als Teil des Herstellungsprozesses angesehen werden sollte. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) halte sie für einen Teil des Herstellungsprozesses und gestehe den Krankenhäusern keine Kostenerstattung dafür zu. Dagegen stuften die ATMP-Richtlinien die Apherese nicht als Teil des Herstellungsprozesses ein. Ein Problem für die Krankenhäuser sei auch, dass es bis heute keine diagnosebezogenen Fallgruppen gebe, in die sie die einmaligen CAR-T-Therapien zur Abrechnung einordnen könnten. „Das bedeutet einen ökonomischen Nachteil.“ Und selbst wenn es sich bei einer CAR-T-Therapie um ein zugelassenes Arzneimittel handele, bestünden die Krankenkassen doch häufig auf individuellen Fallzulassungen durch ihren Medizinischen Dienst, weil die Kosten so hoch seien.


Neue Formen der Zusammenarbeit

Einen freien Marktzugang zu CAR-T-Zelltherapien gibt es nicht. Sie dürfen nur von Krankenhäusern vorgenommen werden, die dafür einen Qualifikationsprozess durchlaufen haben. Davon gibt es in Deutschland inzwischen immerhin 43. Der Qualifikationsprozess folgt zwar den Vorgaben der Behörden, wird aber von den pharmazeutischen Unternehmen durchgeführt, die das Personal der Krankenhäuser für die Anwendung ihres jeweiligen CAR-T-Präparates schulen, was zwischen sechs und neun Monaten dauert. Die föderale Struktur Deutschlands führt dabei zu teilweise erheblichen regionalen Unterschieden. So mussten etwa Patienten aus der Bundeshaupstadt in Brandenburg oder Sachsen-Anhalt behandelt werden, als Berlin die Qualifikation seiner Zentren noch nicht abgeschlossen hatte. „Dass Kliniker von Pharmafirmen für eine bestimmte Behandlung zertifiziert werden müssen, schien allen Beteiligten zunächst unglaublich zu sein“, sagte Kissel. „Aber wir haben uns daran gewöhnt, dass CAR-T-Therapien eine enge Zusammenarbeit zwischen Behandlungszentren und Industrie erfordern.“ Auch in den Krankenhäusern selbst könnten CAR-T-Therapien nur mit neu zusammengesetzten multidisziplinären Teams erfolgreich betrieben werden. Beispielsweise hätten die Krankenhäuser lernen müssen, eigene Standard Operating Procedures für Apherese und Zelltransport zu schreiben, um die Integrität der CAR-T-Produkte zu gewährleisten.


Klinische Ermessensspielräume

Wegen deren Wirksamkeit seien die Ärzte in den Krankenhäusern „mehr als glücklich“ gewesen, CAR-T-Zelltherapien in ihre klinische Praxis aufnehmen zu können, sagte Kissel. Allerdings habe es eine Weile gedauert, bis sie ein sicheres Gefühl dafür entwickelt hätten, welche Patienten dafür gesundheitlich noch fit genug seien und davon am meisten profitieren könnten. Auch sei es stets eine schwierige Entscheidung, wie man mit einer CAR-T-Zell-Infusion umgehen solle, die die Spezifikationen der EMA nicht voll erfülle. Naturgemäß könne deren Herstellung ja nicht standardisiert werden wie bei einem chemischen Medikament. Dürfe man sie verwerfen, obwohl der schwerstkranke Patient wochenlang darauf gewartet habe? Sei es zu verantworten, den Herstellungsprozess mit neu entnommenen Zellen noch einmal zu starten? Hier räumten die ATMP-Richtlinien den Ärzten einen Ermessensspielraum ein, auch solche Infusionen einzusetzen, deren Zielzellzahl knapp unterschritten werde. Weil CAR-T-Zelltherapien mit dem Risiko eines unerwünschten Zytokin-Freisetzungssyndroms einhergehen, ist vorgeschrieben, bei ihrer Anwendung immer das Antikörpräparat Tocilizumab als Gegenmittel bereitzuhalten. Kurioserweise sei Tocilizumab für diese Indikation noch gar nicht zugelassen gewesen, als diese Vorschrift in Kraft getreten sei, sagte Kissel. Die Zulassungsdaten seien dann aber bald von einem CAR-T-Zell-Hersteller eingereicht worden. Im Übrigen gebe es keine erwiesene Kontraindikation zur Anwendung von CAR-T-Zelltherapien bei krebskranken HIV-Patienten. Die Kostenträger weigerten sich trotzdem, deren Behandlung zu bezahlen, weil keine HIV-Patienten in die Zulassungsstudien eingeschlossen gewesen seien. „Das ist eine Diskriminierung“, sagte Kissel.


Schnelles Wachstum trotz fortbestehender Hürden

Im fünften Jahr nach ihrer Einführung sind CAR-T-Zelltherapien vielerorts verfügbar und in Europa schon einigen Tausend Patienten zugute gekommen. Noch seien aber längst nicht alle Hürden überwunden, bemerkte der Referent. So berge das jüngst vom Bundestag verabschiedete GKV-Finanzstabilisierungsgesetz das Risiko, dass für neue CAR-T-Therapien kein adäquater Preis gezahlt werde. Denn naturgemäß hätten sie nicht wie normale Medikamente ein Vergleichspräparat, an dem sie sich messen könnten. Eine Herausforderung für die Hersteller sei es auch, der anwendungsbegleitenden Datenerhebung nachzukommen, die der G-BA verlange, um die Wirksamkeit und Verträglichkeit von CAR-T-Therapien in der klinischen Praxis zu eruieren und damit eine dauerhafte Grundlage für die Kostenerstattung zu schaffen. Unbestritten sei jedoch, dass CAR-T-Zell-Therapien das Potential hätten, die Ansprechrate hämatoonkologischer Malignomen massiv zu verbessern und die Überlebenszeit der Patienten signifikant zu verlängern. Klinische Langzeit-Daten konnte Kissel nicht nennen, dafür stehen CAR-T-Zelltherapien erst zu kurz zur Verfügung. Der globale Markt für CAR-T-Zelltherapien wird bis 2027 auf schätzungsweise vier Milliarden US-Dollar jährlich wachsen. „Dieses Wachstum geschieht nicht, weil alle Herausforderungen gelöst, sondern obwohl sie noch nicht alle gelöst sind.“

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