Der lange Hürdenlauf zur therapeutischen Impfung gegen Krebs

Prof. Theo Dingermann zeichnet beim Perspektivengespräch des House of Pharma und Healthcare ein zuversichtliches Bild der Lage

Der Tumor selbst ist längst nicht mehr das alleinige Target bei der Behandlung von Krebserkrankungen. In den Blickpunkt ist vielmehr die Aktivierung des Immunsystems gerückt. Ob es einem Tumor nämlich gelingt, sich dem Zugriff der Immunabwehr zu entziehen, um ungehemmt weiterzuwuchern, oder ob er von dieser Abwehr rechtzeitig ausgeschaltet wird, ist eine Frage, die über Leben und Tod entscheiden kann. Aus diesem Grund werden bereits seit 2011 molekulare Bremsen auf T-Zellen durch sogenannte Checkpoint-Inhibitoren medikamentös gelöst, wodurch schwarzer Hautkrebs oder nicht-kleinzellige Lungenkarzinome viel von ihrem Schrecken verloren haben. CAR-T-Zelltherapien wiederum bewähren sich bei der Behandlung bestimmter Formen von Blut- und Lymphdrüsenkrebs. Gegen die meisten Krebsarten wirken Checkpoint-Inhibitoren und CAR-T-Zellen bisher aber nicht. Außerdem können sie heftige Nebenwirkungen mit sich bringen. Mancherlei Hoffnungen knüpfen sich daher an therapeutische Impfstoffe gegen Krebs. Warum deren Entwicklung aber trotz großer Fortschritte alles andere als ein Selbstläufer ist, erläuterte Professor (em.) Dr. Theo Dingermann vom Institut für Pharmazeutische Biologie der Goethe-Universität im jüngsten Perspektivengespräch des House of Pharma und Healthcare.

Der große Unterschied zur Prävention

Wenn man sich den Unterschied zwischen präventivem und therapeutischen Impfen vor Augen führe, werde die Herausforderung schlagartig deutlich, sagte Dingermann. Beim präventivem Impfen trainiert man das Immunsystem für den Fall einer Infektion. Dazu werden ihm fremde Antigene präsentiert, denen es zum ersten Mal begegnet. Aus humanen Papillomviren gewonnene Antigene bewähren sich beispielsweise auf diese Art in Impfstoffen zum Schutz vor Gebärmutterhalskrebs. Beim therapeutischen Impfen dagegen präsentiert man dem Immunsystem Antigene, die dem eigenen Körper entstammen. Das kann eigentlich nicht funktionieren, weil das Immunsystem eigene Antigene normalerweise toleriert. In einem Tumor aber sind bestimmte Proteine überexprimiert und/oder durch Mutationen verändert. Nur deshalb könnten sie von T-Zellen als Antigene erkannt und angegriffen werden – allerdings nur unter bestimmten Bedingungen, betonte Dingermann, wie Forschende in den zurückliegenden Jahrzehnten mühevoll gelernt hätten. Entscheidend für die erfolgreiche Entwicklung von Impfstoffen zur Behandlung von Krebs sei es, sowohl potenzielle Tumorantigene zu identifizieren als auch sicherzustellen, dass diese dem Immunsystem korrekt präsentiert werden, denn nur dann könne sich deren Potenz im Patienten entfalten.

Individuelle Neoantigene als ideale Kandidaten

Das erste Tumorantigen wurde im Jahr 1991 bei Hautkrebspatienten entdeckt und erhielt dementsprechend den Namen Melanom-Antigen 1 (MAGE-1). Es gehört, wie viele nach ihm entdeckte überexprimierte Proteine oder Mutationen aus anderen Krebsarten, zu den Antigenen, die in den Tumoren zahlreicher Menschen vorkommen. Deshalb eignen sie sich prinzipiell für die Entwicklung von Impfstoffen zur Behandlung großer Patientenkollektive. Das Potenzial für solche off-the-shelf-Impfstoffe ist aber begrenzt. Im Jahr 2013 scheiterten gleich mehrere klinische Phase-II-Studien. Die Gründe waren damals noch nicht bekannt. Im selben Jahr entdeckten Forschende freilich die Fähigkeit von Neoantigenen, ungleich stärkere Immunreaktionen hervorzurufen. Neoantigene bezeichnen Protein-Veränderungen, die für den Tumor eines einzelnen Patienten charakteristisch sind. Sie entstehen zum Beispiel durch Varianten einzelner Basenbausteine der DNA, durch intratumorale Genfusionenoder durch Unterschiede beim Umschreiben in RNA und bilden ein jeweils individuelles Muster. Das macht Neoantigene zu idealen Antigen-Kandidaten für personalisierte Impfstoffe. Tatsächlich führte der erste Humantest mit einem personalisierten mRNA-Krebsimpfstoff schon 2017 zu einem spektakulären Erfolg bei der Behandlung eines Patienten mit Hautkrebs, der, wie Dingermann berichtete, nach der Impfung die Krebszellen vor seinen Augen förmlich schrumpfen sehen konnte.

Wer kann welche Mutationen präsentieren?

Das sei jedoch ein Einzelfall, der keinesfalls überbewertet werden dürfe, warnte Dingermann, indem er näher auf die Herstellung eines personalisierten Tumorvakzins einging. Zunächst wird der Tumor chirurgisch entfernt (oder ihm eine Biopsie entnommen). Dann werden die codierenden Bereiche des Tumorgenoms und des benachbarten Gewebe-Genoms (ihre Exome) sequenziert, zusätzlich die RNA der Tumorzellen, um abzugleichen, ob die Genbereiche, in denen tumorspezifische Mutationen vorliegen, auch transkribiert worden sind. Nach einer sorgfältigen Qualitätskontrolle der Sequenzdaten muss nun festgestellt werden, wie die mutierten Proteine in der Zelle zerlegt werden und wo und auf welchen Fragmenten sich die Mutationen befinden. Daraufhin wird getestet, welche mutationstragenden Fragmente der Körper des Patienten seinem Immunsystem überhaupt präsentieren kann. Und damit kam Dingermann auf die höchste Hürde zu sprechen, die die Natur vor die Entwicklung eines therapeutischen Krebsimpfstoffes gesetzt hat: Die Passform zwischen den Tumorantigenen und den Haupthistokompatibilitätskomplexen eines Patienten, in englischer Terminologie MHC I und MHC II genannt.

In solche Rahmen passt nicht jedes Bild

MHC-I-Moleküle sind wie Bilderrahmen, in denen alle Körperzellen auf ihrer Oberfläche Schnappschüsse ausstellen, die Aufschluss darüber geben, was in ihrem Inneren passiert. MHC-II-Moleküle tun prinzipiell dasselbe, allerdings kommen sie nur auf besonderen Zellen des Immunsystems vor. Diese Zellen sind in der Regel auf den Umgang mit externen Pathogenen spezialisiert, gegen die sie T-Helferzellen aktivieren. Sie sind aus anderen humanen Leukozyten-Antigenen (HLA) zusammengesetzt wie MHC-I-Moleküle. Jeder Mensch hat ein anderes HLA- und damit MHC-Muster. Es markiert seine immunologische Identität. Nur eineiige Zwillinge haben dasselbe. In jeder Zelle sind etwa 18 verschiedene MHC-Rahmen vorhanden, obwohl es Millionen dieser Rahmen gibt, weshalb alle Menschen ein unterschiedliches Muster dieser 18 Rahmen haben. Die Bilder, die MHC-I-Moleküle ausstellen, sind meistens Eigen-Antigene, also winzige Bruchstücke von Eigen-Proteinen, die die Zelle nicht mehr braucht. Sie schreddert sie in ihrem Proteasom routinemäßig zwecks Recycling und stellt sie draußen als Identitätsnachweis aus. Denn dort patrouillieren ständig Killer-T-Zellen, die mit ihren Rezeptoren alle Körperzellen daraufhin abtasten, ob sie eventuell auch Tumorantigene ausstellen. Sie vor dem riesigen Hintergrundrauschen von normalen Eigen-Antigenen auf gesunden Zellen zu erkennen und zu vernichten, ist eine Aufgabe, vor der Killer-T-Zellen auch deshalb leicht versagen, weil sie nur die Peptidfragmente eines Tumors als fremd erkennen können, die dessen spezifische Mutationen tragen. Alle anderen Tumorproteinfragmente, die beim Schreddern entstanden sind, werden übersehen. Hinzu kommt, dass nicht jedes Fragment zu jeder HLA- bzw. MHC-Form passt.

Es geht nicht ohne immunologische Typisierung

„Das ist angesichts der gigantischen genetischen Diversität der MHCs in der menschlichen Population ein echtes Problem“, sagte Dingermann und verdeutlichte das am Beispiel einer k-Ras-Mutation, die bei Lungen- und Darmkrebs eine Rolle spielt. Das Nonapeptid, das diese Mutation als Antigen präsentieren könnte, zeigt nur zu wenigen HLAs eine ausreichend hohe Bindungsaffinität. Daraus folgt: Für die Entwicklung eines therapeutischen Krebsimpfstoffes kommt es nicht nur darauf an, möglichst viele Mutationen im Tumor eines Patienten zu finden, sondern auch darauf, den Patienten hinsichtlich seiner HLA-Moleküle zu typisieren. Immerhin gebe es dafür heute leistungsfähige bioinformatische Programme. „Erst wenn für ein Peptid ein passendes HLA-Molekül gefunden ist, wird es als Impfkandidat gekennzeichnet.“ Je nach Technologie, wird dann entweder eine m-RNA synthetisiert, auf der mehrere Antigene hintereinander codiert vorliegen, oder es werden Cocktails aus Peptiden hergestellt. m-RNA-Impfstoffe führen dann zu einer intrazellulären Expression von Tumorantigenen. Dementsprechend werden sie von allen Körperzellen in MHC-I-Rahmen präsentiert. Peptidimpfstoffe werden vom Immunsystem als externe Antigene wahrgenommen und von spezialisierten Zellen in MHC-II-Rahmen präsentiert.

Die Lernkurve gibt Anlass zum Optimismus

Die bisherigen klinischen Studien mit personalisierten therapeutischen Tumorvakzinen, meist in Kombination mit anderen Immun- oder Chemotherapien, hätten „gemischte Ergebnisse“ gebracht, sagte Professor Dingermann, aber man lerne dazu. Als positive Beispiele beschrieb er zwei Phase-I-Studien, deren Resultate kürzlich publiziert wurden, eine mit einem Peptid-, die andere mit einem mRNA-Impfstoff. Der Peptidimpfstoff rief bei neun Patienten mit fortgeschrittenem Nierenkarzinom eine deutliche Immunantwort hervor. Sie reagierten im Schnitt auf sieben Neoantigen-Peptide. Noch 40 Monate nach der Impfung zeigte keiner der Patienten einen Rückfall. In die Prüfung des m-RNA-Impfstoffes waren 16 Patienten mit Pankreaskarzinom eingeschlossen. Die Hälfte von ihnen hatte zum Endedes Beobachtungszeitraumes nach 18 Monaten rezidivfrei überlebt. Die anderen acht reagierten allerdings nicht auf den Impfstoff. Offenbar waren bei ihnen Antigene ausgewählt worden, für die keine geeigneten MHC-Rahmen vorhanden waren, so dass keine Immunaktivierung stattfand. „Bei einer therapeutischen Krebsimpfung sind wir also mit dem Problem einer potenziellen Non-Response konfrontiert, das bisher beim Impfen kaum eine Rolle spielt“, bilanzierte Theo Dingermann. „Dennoch geben die Studien Anlass zum Optimismus. Und es ist gut, dass maßgebliche Bereiche dieser Forschung in Deutschland durchgeführt werden!“

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