„Das Wissen, auf dem unser Leben aufbaut“

Senckenberg-Direktor rückt die biologische Vielfalt in das Zentrum eines holistischen Gesundheitsbegriffes

 

Die Gesundheit des Menschen ist von der Gesundheit der Erde und all ihrer Ökosysteme abhängig. Dieser Satz klingt so selbstverständlich, dass man annehmen könnte, der darin zusammengefasste „One health“-Ansatz sei längst Allgemeingut geworden und die Politik folgte ihm entschlossen als einer Richtschnur ihres Handelns. Zumal die Pandemie der Menschheit drastisch vor Augen geführt hat, was geschehen kann, wenn aus einem einstmals intakten Ökosystem, in das sie leichtsinnig vordringt, ein Virus auf sie überspringt. Zumal weiterhin das World Economic Forum, das jedes Jahr Entscheider aus aller Welt in Davos zusammenführt, in seinem jüngsten Risikoreport als die vier größten Risiken, die uns bedrohen, ausschließlich Umweltrisiken benennt, wie Prof. Dr. Klement Tockner bei der 12. Jahrestagung des House of Pharma & Healthcare betonte: Das Nicht-Einhalten der 1,5-Grad-Grenze für den Temperaturanstieg, ungenügende Anpassungen an den Klimawandel, Naturkatastrophen und extreme Wetterereignisse sowie den Verlust von biologischer Vielfalt und den Kollaps von Ökosystemen. Tatsächlich jedoch beließen die Verantwortlichen es bisher nicht nur bevorzugt bei Lippenbekenntnissen, sondern handelten auch kontraproduktiv, sagte der Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung im Gespräch mit ZEIT-Redakteur Jan Schweitzer zum Thema „One Health, Biodiversität und Nachhaltigkeit – wo führt der Weg hin?“ So würden etwa in Deutschland nach Angaben des Umweltbundesamtes zwar jährlich 78 Milliarden Euro für die Umwelt ausgegeben – 94 Prozent davon gingen aber in die Abfall- und Abwasserwirtschaft und die Beseitigung von Umweltschäden, „also im Prinzip nur ins Aufräumen“. Dagegen flössen 65 Milliarden Euro in Subventionen, die klima- und umweltschädlich seien. „Wir finanzieren also einerseits die Zerstörung unserer Umwelt durch falsche Subventionen und investieren andererseits, um dem entgegenzuwirken.“

 

„Wir sind zu besonderer Vorsorge verpflichtet“

„Die wahrscheinlich größte Herausforderung, vor der wir Menschen stehen, ist der Verlust der biologischen Vielfalt“, sagte Tockner. In der biologischen Vielfalt unseres Planeten steckten die Informationen von mehr als dreieinhalb Milliarden Jahren Evolution. „Das sind die Bibliotheken der Natur. Das ist das Wissen, auf dem unser Leben aufbaut.“ Viele Arzneistoffe kämen aus der Natur, viele Medikamente seien von der Natur inspiriert. „Ohne diese Natur würden wir diese Möglichkeiten zur Unterstützung unserer Gesundheit nicht haben.“ Studien seines Institutes hätten ergeben, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen der biologischen Vielfalt und dem eigenen Wohlbefinden gebe. „Wir wissen nicht, was zum Beispiel ein 20-prozentiger Verlust an dieser Vielfalt für die Umwelt bedeuten wird.“ Die Folgen eines Anstiegs der Temperatur um zwei Grad gegenüber dem Level des vorindustriellen Zeitalters könne man wissenschaftlich ungefähr abschätzen, nicht aber die eines bestimmten Ausmaßes von Biodiversitätsverlusten. „Weil wir das nicht abschätzen können, sind wir zu einer besonderen Vorsorge verpflichtet“, mahnte Tockner. „Im Moment verlieren wir 150 Arten täglich.“ Die Lehre aus den „großen Aussterbeereignissen“ der Erdgeschichte sei es, dass die dominanten Arten dabei immer verschwinden. „Wenn es uns nicht mehr geben sollte, wird sich der Planet erholen.“ Im Laufe von rund zehn Millionen Jahren würde dann vermutlich sogar wieder etwas mehr Vielfalt entstehen. Aber natürlich ist das keine tröstliche Perspektive. Überbevölkerung sei übrigens für ihn kein entscheidendes Thema, sagte Tockner. „Es ist möglich, acht Milliarden Menschen zu ernähren und ihnen ein gutes Leben zu schaffen.“ Und wenn es gelänge, die durchschnittliche Geburtenrate auf etwas unter zwei zu senken, würden im Jahr 2200 zwischen drei und vier Milliarden Menschen auf der Erde leben. „Die Schwierigkeit besteht darin, die nächsten 150 Jahre zu überstehen, ohne irreversible Prozesse auszulösen.“

 

„Es fehlt der Politik an Mut“

Tockner wies auf mögliche Zielkonflikte hin, die sich zwischen dem Bekämpfen der Folgen des Klimawandels und der Pflege intakter Ökosysteme ergeben können. „Wir werden mit hierzulande irgendwann die ersten Malariafälle haben“, sagte er. „Das wird unser Bemühen, Feuchtgebiete zu renaturieren, massiv beeinflussen, weil die Befürchtung, darin würde sich Malaria ausbreiten, überhandnehmen wird.“ Wer aber wolle das Risiko einiger Malariafälle gegen das Risiko des Verlustes ganzer Ökosysteme aufwiegen? Trotz all dieser Probleme von Klimawandel und abnehmender Biodiversität steige aber doch die Lebenserwartung der Menschen kontinuierlich an, wandte Jan Schweitzer ein. Das sei zum Teil dem Fortschritt der Medizin zu verdanken, entgegnete Tockner, vor allem aber müsse man einsehen: „Der Wohlstand und die Lebenserwartung, die wir heute haben, basieren auf der Übernutzung unserer natürlichen Ressourcen und gehen zu Lasten und auf Kosten der nächsten Generationen.“ Der Erkenntnisgewinn darüber und über den Zusammenhang zwischen der Gesundheit von Menschen, Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen auf dieser Erde entwickele sich enorm schnell. Aber diese Erkenntnisse würden nicht umgesetzt. „Das Scharnier zwischen Wissen und Handeln funktioniert nicht.“ Einerseits deshalb, weil bestimmte Interessengruppen immer wieder bewusst Zweifel und Unsicherheit streuten. „Es ist unverantwortlich, gegenüber den kommenden Generationen zu behaupten, es gebe keinen menschengemachten Klimawandel.“ Andererseits deshalb, weil es der Politik an Mut fehle. „Es ist unfair, die Verantwortung für gesundes Verhalten auf das Individuum zu übertragen. Es braucht dafür eine Regulatorik.“ Man könne nicht auf Freiwilligkeit setzen, sagte Tockner. Auch international nicht. Die wenigsten internationalen Abkommen hätten einen Effekt. "Wenn es bei Verstößen keine Sanktionsmöglichkeiten gibt, bleiben sie wirkungslos.“

 

„Die Welt hat Probleme, die Universitäten Departments“

Die Wissenschaft sei übrigens ganz besonders herausgefordert. „Wir müssen lernen, über die eigene Disziplin hinauszuarbeiten. Das ist im derzeitigen Wissenschaftssystem ein großes Hindernis“, sagte Tockner und zitierte den saloppen Spruch, wonach die Welt Probleme habe, die Universitäten aber Departments. „Wir müssen die Durchlässigkeit im Wissenschaftssystem massiv erhöhen, sonst ist es nicht dafür gewappnet, dem holistischen One-Health-Ansatz gerecht zu werden. Es liegt an uns, das Wissenschaftssystem und dessen Anreizsysteme teilweise zu verändern.“ Der Kommunikation komme in der Wissenschaft wie in der Politik in diesem Kontext eine doppelte Aufgabe zu, ergänzte Tockner: Komplexität zu kommunizieren und Unsicherheit zu kommunizieren. „Dabei darf sie der Öffentlichkeit viel zumuten.“

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