„Das Coronavirus auszurotten ist völlig unrealistisch“, bestätigte Kanzleramtsminister Professor Helge Braun diese Einschätzung der Ministerpräsidentin des australischen Bundesstaates New South Wales im Gespräch mit ZEIT-Redakteur Marc Brost. „Die Aussage stimmt allein deshalb, weil Coronaviren nicht nur beim Menschen vorkommen“, sagte Braun bei der 10. Jahrestagung des House of Pharma & Healthcare, die pandemiebedingt zum zweiten Mal im virtuellen Raum stattfand. „Das Virus wird bleiben.“ Gerade darum sei es so wichtig, in der gesamten Gesellschaft eine Grundimmunität auszubilden.
Angesichts der Tatsache, dass selbst die „ehemaligen Musterländer der Coronabekämpfung wie Australien und Neuseeland mit der Delta-Variante nicht mehr zurechtkommen“, wie Brost sagte, und die Impfbereitschaft der deutschen Bevölkerung zu wünschen übriglässt, geht Kanzleramtsminister Braun davon aus, „dass wir im Herbst und Winter, solange wir die Grundimmunität nicht haben, Beschränkungen für Ungeimpfte brauchen“. Einen weiteren Lockdown für alle schloss er jedoch aus. „Die vierte Welle hat bereits begonnen“, unterstrich Braun, „sie wird aber sehr flach ausfallen, wenn wir eine hohe Impfquote erreichen.“ Dass das möglich sei, habe das kleinste Bundesland Bremen vorbildlich gezeigt.
Die vierte Welle könnte sehr hoch werden
Ein ganz wichtiger Punkt, um den die Bundesregierung in der Pandemie ringe, sei „die Akzeptanz der Bevölkerung“, sagte Braun. Dazu gehöre die Einsicht: „Wenn die älteren und vulnerablen Menschen weitgehend geimpft sind, verlaufen Neuinfektionen zwar weniger schwer, spielen natürlich aber weiterhin eine Rolle.“ Wenn viele Menschen nach einem relativ entspannten Sommer das Gefühl hätten, eigentlich sei die Pandemie schon vorbei, sei das trügerisch. In deren bisherigen drei Wellen hätten sich in Deutschland rund dreieinhalb Millionen Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert. Die Zahl der nichtgeimpften Erwachsenen betrage aber noch rund das Vierfache. „Das zeigt, wie hoch die vierte Welle potenziell werden kann, wenn wir nicht vorsichtig sind.“ Ohne „Basismaßnahmen“ wie beispielsweise die Maskenpflicht im ÖPNV, ohne Kontaktnachverfolgung und Quarantäneanordnungen riskiere man eine erhebliche Beschleunigung des Infektionsverlaufs.
Mitwirkung der Bürger als Erfolgsgarant
„Selbst wenn wir uns aufgrund der Impfung und der sinkenden Krankenhauszahlen das Zwei- bis Dreifache an Infektionen leisten können“, sagte Braun, „heißt das noch lange nicht, dass uns dadurch nicht an vielen Stellen Probleme entstehen.“ In Großbritannien beispielsweise sei es bei einer hohen Inzidenz plötzlich zu Lieferkettenunterbrechungen gekommen, weil so viele Arbeitnehmer erkrankt waren. „Ein hohes Infektionsgeschehen sollte man generell vermeiden.“ Weil man wisse, dass sich die Deltavariante ähnlich schnell wie Windpocken ausbreiten, seien gute Schutzkonzepte in Schulen und Kindergärten besonders wichtig. „Nachdem die Kinder und Jugendlichen in der ersten Phase der Pandemie zum Schutz ihrer Großeltern zurückgetreten sind, müssen sie ihre Lerndefizite schnell aufholen.“ Das dürfe aber nicht auf Kosten des Infektionsschutzes gehen. „Alle Erwachsenen um sie herum sollten sich impfen lassen.“ Die Mitwirkung der Bürger sei „der Erfolgsgarant in so einer Pandemie“.
Drei kritische Fragen
Mit drei oft gehörten Kritikpunkten versuchte Marc Brost den Kanzleramtsminister aus der Reserve zu locken. „Sie hören nicht die Breite der Wissenschaft an, sondern nur bestimmte Virologen, die auf der Linie des Kanzleramtes sind“, sagte er erstens. „Wir suchen uns das als Bundesregierung nicht aus“, entgegnete Braun, „sondern verlassen uns auf Institutionen wie das Robert-Koch-Institut und die Leopoldina.“ Von diesen werde die gesamte wissenschaftliche Expertise und Übersicht bereitgehalten. Im Übrigen wäre die Bundesregierung nicht gut beraten, „die Summe aller Minderheitsmeinungen um sich zu versammeln“.
Zweitens sei, so Brost, die Ministerpräsidentenkonferenz als wichtigstes politisches Gremium in der Pandemie von Braun so schlecht vorbereitet gewesen, dass sie zur „Lachnummer“ geworden sei. Die Wahrnehmung könne er zwar verstehen, sagte Braun, sie treffe aber nicht den Kern. „Früher hat niemanden interessiert, wo dieses Gremium tagt und was es beredet.“ Die Pandemie habe es dann „so heiß aufgeladen, dass es keinen Raum mehr gab, in der man verschiedene Ideen in Ruhe diskutieren und auch mal verwerfen konnte“.
Drittens, so Brost, habe die Bundeskanzlerin die Pandemie zwar als Jahrhundertkatastrophe bezeichnet, aber selbst nicht danach gehandelt, sondern sei „seltsam fern von den Bürgern“ geblieben. „Das finde ich überhaupt nicht“, sagte Braun fast empört. „Die Kanzlerin war sehr präsent und hat sich immer wieder eingeschaltet. Sie hat im vergangenen Jahr zum Beispiel das exponentielle Wachstum im Herbst öffentlich vorgerechnet.“
An den Fakten orientieren
Seit dem Beginn der Pandemie, so Brost, stünde die Regierung unter Dauerdruck und Dauerbeobachtung. „Wie genervt sind sie davon?“ – „Überhaupt nicht“, entgegnete Braun mit glaubwürdiger Ruhe. „Wenn man Politik macht und Verantwortung trägt, darf man sich nicht an Stimmungen orientieren, sondern muss die Fakten im Auge behalten. Für mich war entscheidend, bei der Analyse im Sommer zu sehen, dass die Übersterblichkeit in Deutschland im Verhältnis zu allen anderen europäischen Ländern sehr gering war. Wir sind also bisher ganz gut durch die Pandemie gekommen.“