Berlin besinnt sich auf die Bedeutung der Pharma-Branche

AbbVie-Manager nimmt positive Signale der Politik für mehr Innovationsfreundlichkeit wahr

 

„Wenn wir mehr originäre forschende Pharmaunternehmen haben wollen, dann müssen die Rahmenbedingungen stimmen“, sagte der Hessische Finanzminister Michael Boddenberg  in seiner Begrüßungsansprache anlässlich der 12. Jahrestagung des House of Pharma & Healthcare. Er erwarte sich, fuhr der Minister fort, „in absehbarer Zeit Fortschritte bei der Frage, wie wir den pharmazeutischen forschenden Unternehmen dabei helfen, die immensen Aufwendungen in ihren Jahresabschlüssen so zu platzieren, dass sie Anreize haben, das auch hier am Ort zu tun“. Solche Worte aus dem Munde eines hochrangigen Politikers nehme er gerne wahr, sagte Olaf Weppner, Chef des Deutschlandgeschäftes des Pharmakonzerns AbbVie, in einem anschließenden Gespräch mit Andreas Horchler zu den Zukunftsperspektiven des Pharmastandorts Deutschland. „Das zeigt, dass ein Umdenken stattfindet und stattgefunden hat.“ Wobei Weppner betonte, dass das zum Jahreswechsel in Kraft getretene GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) ein Bundesgesetz ist, vor dessen Verabschiedung im Oktober 2022 nicht nur Unternehmen und Verbände, sondern auch Landesregierungen wie die Hessische gewarnt hätten. „Jetzt bekommen wir die Folgen so langsam zu spüren“, sagte er. „Es gibt mittlerweile schon vier innovative Medikamente, die wegen dieses Gesetzes in Deutschland nicht in den Markt eingeführt worden sind.“

 

Das alte AMNOG hat gut funktioniert

Mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) war in Deutschland 2011 ein Verfahren für die Preisbildung von Arzneimitteln eingeführt worden, das auf der Bewertung ihres Zusatznutzens beruht. Dieses Verfahren hat sich für alle Beteiligten bewährt und den pharmazeutischen Unternehmen die Sicherheit gegeben, die Preise ihrer Produkte entsprechend deren therapeutischem Zusatznutzen zu planen. In den allermeisten Fällen konnten sie mit den Kostenträgern einen Konsens über Erstattungsfragen herstellen, ohne dass es eines Schiedsspruchs bedurft hätte. Diese Planungssicherheit ist mit der einschneidenden AMNOG-Reform, die das GKV-FinStG bedeutet, dahin. Denn auch bei nachgewiesenem Zusatznutzen darf ein neues Arzneimittel in bestimmten Fällen nicht mehr als die Vergleichstherapie kosten. Wirkt es gleich gut wie das Konkurrenzpräparat, muss es sogar weniger kosten. Zudem verlangt das neue Gesetz den Herstellern höhere Zwangsrabatte ab, insbesondere bei neuen Medikamenten, die für eine Kombinationstherapie mit anderen Präparaten zugelassen werden. „Die Pharmaindustrie hat sich nie dagegen gewehrt, einen adäquaten Beitrag zur Stabilisierung der GKV zu leisten“, sagte Weppner. Sie halte es aber für unverhältnismäßig, wenn mehr als 70 Prozent der Einsparungen, die durch dieses Gesetz erzielt werden, zu ihren Lasten gingen, obwohl der Anteil der Arzneimittelausgaben am GKV-Budget viel, viel geringer sei.

 

Schrittinnovationen sollten nicht abgewertet werden

„Der strategische Schaden, der dem Standort Deutschland durch dieses Gesetz entsteht, ist bemerkenswert hoch“, sagte Weppner. Das liege daran, dass Deutschland für die internationalen Pharmakonzerne eine Leuchtturmfunktion habe. „Sie richten ihre Entwicklungsprogramme am deutschen Markt aus. Das AMNOG in seiner bisherigen Form war ein wesentlicher Ankerpunkt für Entscheidungen der Konzernzentralen.“ Schon von der Phase II an sei die klinische Prüfung von Pipeline-Präparaten also entsprechend den Bedingungen und Bedürfnissen des deutschen Marktes konzeptioniert, die Komparatoren, die Endpunkte, das gesamte Studiendesign darauf eingestellt worden. Wenn aber nun durch das GKV-FinStG „eine kategorische Abwertung von Schrittinnovationen“ erfolge, dann werde das dazu führen, dass Deutschland im internationalen Wettbewerb zunehmend depriorisiert werde. Die notwendigen Studien würden dann hierzulande nicht mehr durchgeführt und damit in Kauf genommen, „dass dieses Präparat in Deutschland nicht mehr zur Verfügung stehen wird“. Diese Entwicklung werde nicht plötzlich, sondern schleichend erfolgen. Es gebe bereits Warnsignale aus der Industrie, die zeigten, „dass wir Gefahr laufen, unser Potenzial zu verschenken und abgehängt zu werden“. Dass Roche im März eine Investition von 600 Million Euro im oberbayerischen Penzberg angekündigt habe, stehe dazu nicht im Widerspruch. Denn so eine Investition habe einen langjährigen Vorlauf. Wie akut und groß das Problem des GKV-FinStG für die Pharmabranche sei, zeige sich vielmehr daran, dass Roche im Mai Verfassungsbeschwerde gegen dieses Gesetz eingelegt habe, weil es darin einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit sieht.

 

Für ein Pharmaforschungs-Förderungsgesetz

Das GKV-FinStG sei im vergangenen Herbst, als die Energiekrise die politische Agenda dominiert habe, „unter dem Radar aller Entscheider in Berlin durchgewunken worden“, so müsse man es leider sagen, meinte Weppner. „Wir haben als Einzelunternehmen und im Verband forschender Arzneimittelhersteller nicht aufgehört, auf die damit verbundene Gefährdung des Standortes hinzuweisen.“ Inzwischen hätten deshalb sowohl das Wirtschaftsministerium als auch das Kanzleramt erkannt, dass Handlungsbedarf besteht, das AMNOG im Gespräch mit allen Beteiligten weiterzuentwickeln, „damit der Aspekt Innovationsfreundlichkeit zurückgewonnen wird“. Weppner erinnerte daran, dass das GKV-FinStG ursprünglich nur als Überbrückung für ein Jahr gedacht war, der ein gesetzlicher Rahmen für eine langfristige Finanzierung der GKV folgen sollte. „Bis heute kenne ich darüber keine Details“, sagte er. „Wir haben also schon ein dreiviertel Jahr verloren, ohne zu wissen, wie es weitergeht.“ Gleichzeitig werde immer deutlicher, dass der Pharmastandort sich in keinem konkurrenzfähigen Zustand befinde. Um ihn nicht nur zu retten, sondern auch auszubauen, bedürfte es eines Pharmaforschungs-Förderungsgesetzes. „Der Forschungsanteil der deutschen Pharmaindustrie an ihrer Wertschöpfung ist doppelt so hoch wie der der Automobilindustrie.“ Wie wichtig die Branche für die nachhaltige Zukunft einer wissenschaftsbasierten Volkswirtschaft ist, sollte der Politik also eigentlich einleuchten. 

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