„Innovation ist unser Treibstoff“, sagte Dr. med. Ralf Angermund. Das gelte für die pharmazeutische Industrie mehr als für jede andere Branche. Selbst bei Smartphones fänden in der Regel nur Schrittinnovationen statt. Wer aber Arzneimittel entwickle, der müsse auf Sprunginnovationen setzen, um zur Lösung der großen Gesundheitsprobleme beizutragen. Aus gutem Grund investiere sein Unternehmen deshalb jedes Jahr mehr als 15 Milliarden US-Dollar weltweit in Forschung und Entwicklung, sagte Angermund, der in der deutschen Landesgesellschaft von Johnson & Johnson für Early Innovation Partnering verantwortlich zeichnet, beim Friday Talk des House of Pharma und Healthcare und der Goethe Business School im Rahmen des berufsbegleitenden Studiengangs zum Master of Pharmaceutical Business Administration. Das komme vielen Patienten zugute. Als er vor mehr als 25 Jahren angefangen habe, für die pharmazeutische Industrie zu arbeiten, habe zum Beispiel die Lebenserwartung von Patienten mit der Diagnose multiples Myelom im Durchschnitt drei Jahre betragen, heute liege diese Spanne zwischen zehn und 15 Jahren. Dennoch könne man diese Blutkrebsart nur in den seltensten Fällen heilen – wie übrigens, trotz großer Behandlungsfortschritte mit Antikörpern, auch quälende chronisch-entzündliche Darmerkrankungen nicht. „Wir brauchen also noch viel mehr Innovation“. Aber mit all ihrem Geld könne die Pharmaindustrie das nicht allein bewerkstelligen. „Die intellektuelle Kraft, neue Pfade zu erschließen und wirklich brillante neue Ansatzpunkte zu entdecken, ist in der akademischen Forschung und in der Startup-Szene angesiedelt“. Mit beiden in Kontakt zu treten und eventuell Kooperationen zu vereinbaren, die in eine erfolgreiche Arzneimittelentwicklung münden, ist Angermunds Aufgabe.
Deutschlands Bedeutungsverlust
Diese Aufgabe ist in den vergangenen Jahren nicht leichter geworden. Aus internationaler pharmazeutischer Perspektive betrachtet habe Deutschland als Innovations-Standort nämlich merklich an Bedeutung verloren, sagte Angermund, wobei er sich auf die Ergebnisse einer Umfrage stützte, die der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) zusammen mit der Unternehmensberatung Kearney unter seinen Mitgliedsunternehmen erhoben und 2023 publiziert hatte. „Es wird immer unattraktiver, Forschung in Deutschland zu betreiben“, klagte Ralf Angermund. Was etwa die Anzahl klinischer Studien betreffe, die im Lande durchgeführt würden, so sei Deutschland (Stand 2021) international auf den siebten Rang abgefallen, was die Zahl von Patienten betreffe, die pro eine Million Einwohnern an solchen Studien teilnähmen, sogar auf Platz elf. Drei Gründe vor allem nannten die von Kearney befragten Pharmaunternehmen für diesen Bedeutungsverlust Deutschlands, dessen Exzellenz in der Grundlagenforschung doch unbestritten sei: Sein schwach ausgeprägtes Ökosystem für Kooperationen mit Universitäten und Startups, seine relativ schlechten Möglichkeiten des Zugangs zu und der Verwendung von Gesundheitsdaten und seine weit unterdurchschnittliche Geschwindigkeit bei der Genehmigung von Forschungsanträgen und klinischen Studien. Er habe internationale Studien erlebt, so Angermund, bei denen die deutschen Zentren erst fast ein Jahr später mit der Rekrutierung von Patienten beginnen konnten als die Kliniken anderer beteiligter Länder, weil das grüne Licht der Behörden und der Abschluss der Verträge so lange auf sich habe warten lassen. „Das ist nicht wettbewerbsfähig“. Immerhin gebe das jüngst in Kraft getretene Medizinforschungsgesetz Anlass zur Hoffnung, dass hier allmählich Besserung eintrete.
Innovationszentren und Inkubationslabore
Ausführlich erinnerte Angermund sein Auditorium daran, wie lang und teuer und riskant die Reise zu einem innovativen Arzneimittel ist – und wie breit das sprichwörtliche Tal des Todes, das es dabei zu durchqueren oder überbrücken gilt. Es fängt gleich nach der Euphorie einer neuen Entdeckung an und endet erst nach einigen Jahren, wenn deren ursprüngliches Konzept in den Phasen der klinischen Prüfung erstmals an Patienten erwiesen worden ist. Wenn sie allein auf sich gestellt seien, könnten akademische Forscher oder Startups diesen Zeitraum in der Regel nicht überstehen. Hier komme die Unterstützung der Industrie ins Spiel. Johnson & Johnson biete solche Unterstützung auf viererlei Art an. Neben den klassischen Instrumenten des Business Development und des strategischen Equity Investments seien dabei besonders die Innovationszentren und die Inkubationslabore (JLabs) hervorzuheben, die sein Unternehmen ins Leben gerufen habe. Den vier Innovationszentren in Boston, London, San Francisco und Shanghai sei daran gelegen, Forschenden aus Academia und Startups so früh wie möglich mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Man dürfe sich diese Zentren freilich nicht als Forschungslabore vorstellen, sagte Angermund. Das Innovationszentrum in London etwa umfasse eine Büroetage mit wenigen Mitarbeitern, die vorwiegend virtuell berieten, indem sie externe Forscher entweder durch proaktives Scouting oder als Reaktion auf deren Anfragen passgenau mit Experten von Johnson & Johnson in Verbindung bringen. So sei in frühen Phasen der Arzneimittelentwicklung die Optimierung einer Leitsubstanz entscheidend für deren weiteren Erfolg. Diese Lead Optimization ist die weitaus kostspieligste Phase der präklinischen Entwicklung, erfordert sie doch häufig Heerscharen von medizinischen Chemikern nebst einer Vielzahl von Hightech-Geräten, über die nur große Firmen verfügen. In den JLabs andererseits wird wirklich an der Laborbank geforscht. In ihnen versucht Johnson & Johnson innovative Ideen gemeinsam mit deren Urhebern erfolgreich zu inkubieren, wozu nicht zuletzt regulatorischer Rat zum richtigen Umgang mit verschiedenen Zulassungsbehörden zählt. Ralf Angermund bezeichnete sie als das größte globale Inkubator-Netzwerk offener Innovationsökosysteme. Am häufigsten wird eine Mentorenschaft nachgefragt, die hilft, die unterschiedlichsten Hürden in der Substanzentwicklung zu meistern. Physischer Laborplatz ist mittlerweile häufig verfügbar. So wurde das JLab in Brüssel sogar geschlossen.
Die Risikoscheu der Arrivierten
Dem Innovationszentrum in London ist Ralf Angermund als Scout für Deutschland zugeordnet. Regelmäßig ist er aber auch in das erste Assessment von Startups aus anderen europäischen Ländern eingebunden. Und macht dabei einen bemerkenswerten Unterschied aus. Deutsche Startups werden nicht selten von Postdocs präsentiert, Startups aus Frankreich, Großbritannien und Skandinavien dagegen meist von Forschern mit langer Erfahrung und hoher Kompetenz, die damit besser punkten könnten als der deutsche Nachwuchs. In Deutschland machten es sich erfahrene Forscher offenbar allzu leicht in einer Nische einer der großen Forschungsorganisationen bequem. Sie kämen zu selten auf die Idee, Status und Sicherheit gegen ein risikobehaftetes Innovationsvorhaben einzutauschen.
Im Roundtable-Format zurück zur Spitze
Ein anderer Grund dafür, dass Deutschland in manchen Zukunftsfeldern der Medizin international zurückliegt, ist nach Angermunds Überzeugung in der Zersplitterung der Forschungslandschaft und der politischen Zuständigkeiten zu suchen – in der unübersehbaren Vielfalt von Stakeholdern also, die mitreden wollen, aber oft aneinander vorbeireden, wenn es um die Gestaltung von Innovation gehe. Mit dem Pharmadialog früherer Bundesregierungen sei ein erster Versuch unternommen worden, diese Stakeholder in ein zielführendes Gespräch miteinander zu bringen. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung bezeichne die pharmazeutische Industrie ausdrücklich als Leitwirtschaft und stelle eine Fortsetzung des Pharmadialogs und der Pharmastrategie in Aussicht. Das stimme ihn zuversichtlich, dass schon bald ein Round-Table-Format etabliert werden könne, in dem alle Stakeholder voneinander lernen könnten, gemeinsam an einem Strang zu ziehen, um den Pharma-Innovationsstandort Deutschland wieder an die Weltspitze zu bringen.