Auf dem Weg zu einer neuen Wirkstoffklasse

Zukunftscluster PROXIDRUGS geht in seine zweite Umsetzungsphase

Der gezielte Abbau krankheitsverursachender Proteine ist ein innovativer therapeutischer Ansatz, der weit über die althergebrachte Hemmung pathologisch relevanter Proteine hinausgeht, wodurch er die medikamentösen Möglichkeiten der Medizin schon bald um ein Vielfaches erweitern könnte. Im Laufe der 2010er Jahre hat sich der Wettlauf um die Entwicklung von Arzneimitteln, die auf diesem Wirkmechanismus basieren, weltweit intensiviert. Erste klinische Studien bei Prostata- und Brustkrebs laufen bereits. In Europa nehmen Universitäten, Großforschungsinstitute und Unternehmen des Rhein-Main-Gebietes dabei die führende Rolle ein. Sie haben sich im Zukunftscluster PROXIDRUGS zusammengeschlossen, dessen erste Umsetzungsphase seit 2021 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Das interdisziplinäre Forschungsnetzwerk um Prof. Ivan Đikić vom Institut für Biochemie II der Goethe-Universität hat in dieser Zeit so erfolgreich gearbeitet, dass eine unabhängige Jury dem Ministerium nach gründlicher Evaluation empfahl, es vom 1. Januar 2025 an für weitere drei Jahre mit bis zu 15 Millionen Euro zu fördern. Unter der Überschrift „Drug Discovery am Main“ fungierte das House of Pharma und Healthcare deshalb am Dienstag nach Ostern auf dem Campus Niederrad der Goethe-Universität Frankfurt als Gastgeber der öffentlichen Auftaktveranstaltung der zweiten Förderrunde von PROXIDRUGS.

Umprogrammierung der natürlichen Protein-Entsorgung

PROXIDRUGS ist die Kurzform von proximity inducing drugs.Das sind Substanzen, die dadurch wirken, dass sie zwischen zwei anderen Molekülen, die normalerweise nicht miteinander in Kontakt träten, eine Nähe (proximity) herstellen, der diese nichtentkommen können. Diese Nähe kann eine Fülle therapeutischer Optionen eröffnen. Im Falle des gezielten Proteinabbaus (targeted protein degradation), der im Fokus des Frankfurter Zukunftsclusters liegt, geht es speziell darum, Substanzen zu erforschen und zu entwickeln, die mit zwei verschiedenen Bindungsarmen einerseits ein krankheitsrelevantes Protein und andererseits ein Enzym packen, welches dafür sorgt, dass dieses Protein den Müllschluckern der Zelle zugeführt wird, den Proteasomen. Normalerweise dienen diese Müllschlucker, die in jeder unserer Körperzellen vieltausendfach vorkommen, nur dem Schreddern und Recycling falsch gefalteter oder alter Proteine. Das geschieht durch deren Etikettierung mit dem molekularen Marker Ubiquitin. Als „Etikettiermaschinen“ fungieren Enzyme, die E3-Ligasen genannt werden. Proximitäts-induzierende Wirkstoffe, wie sie im Zukunftscluster entwickelt werden, können nun prinzipiell jedes Protein an eine solche Etikettiermaschine koppeln und von ihr für den Abbau markieren lassen. „Wir versuchen also, mit diesen Wirkstoffen das natürliche Entsorgungssystem unserer Zellen umzuprogrammieren, um krankheitsrelevante Proteine abzubauen“, erläutert Ivan Đikić. Das Besondere daran: Dieser Ansatz erlaubt es, vielversprechende Targets anzugehen, die pharmakologisch bisher unzugänglich sind, weil sie keine Bindungstaschen für kleine Agonisten oder Antagonisten aufweisen. Diese Unzugänglichkeit zeichnet immerhin 80 Prozent aller krankheitsrelevanten Proteine aus. Ein weiterer Vorteil des im Zukunftscluster verfolgten Wirkprinzips ist seine hohe Spezifität. Denn der proximitätsinduzierende Wirkstoff geht wiederverwendbar aus seiner Reaktion hervor, so dass er sehr niedrig dosiert werden kann und nur geringe Nebenwirkungen zu erwarten sind.

Neue Plattformen für die Wirkstoffentwicklung etabliert

Der Zukunftscluster PROXIDRUGS wurzelt in der regional vorhandenen Expertise und Exzellenz zur systematischen Entwicklung von Proxi-Wirkstoffen. Darauf wies BMBF-Referatsleiter Mitja Müller bei der Auftaktveranstaltung noch einmal ausdrücklich hin. Zusammen mit 15 anderen Projekten aus 137 eingereichten Vorschlägen im Ideenwettbewerb „Clusters4Future“ 2020 für eine Förderung in einer sechsmonatigen Konzeptionsphase ausgewählt, wurde PROXIDRUGS 2021 zu einem von sieben Gewinnern des Wettbewerbs gekürt. Zunächst bestand das Netzwerk aus neun Partnern aus dem akademischen Bereich und der Industrie. Von vorneherein verknüpfte es Grundlagenforschung, klinische Forschung sowie Biotechnologie- und Pharmaunternehmen, um den Transfer aus dem Labor ans Krankenbett zu beschleunigen. „In der ersten Umsetzungsphase haben wir technologisch große Fortschritte erzielt und neue Plattformen zur Identifikation von Bausteinen für Wirkstoffe etabliert, die nun systematisch weiterentwickelt werden sollen“, bilanziert Cluster-Sprecher Đikić. In die zweite Umsetzungsphase geht der Cluster nun mit 22 Partnern, die in zehn interdisziplinär besetzten Projekten zusammenarbeiten. All diese Projekte sind im präkompetitiven Bereich angesiedelt. Die akademischen Partner kommen von der Goethe-Universität Frankfurt, der TU Darmstadt, der Universität Heidelberg, dem MPI für Biophysik und dem Fraunhofer-Institut für Translationale Medizin und Pharmakologie. Zu den großen Pharmapartnern zählen unter anderem AbbVie Deutschland, Merck Healthcare und GlaxoSmithKline.

Die Verschiebung medizinischer Grenzen im Visier

„Die erneute umfangreiche Förderung des BMBFist eine Auszeichnung für die hervorragende Arbeit, die Wissenschaft und Wirtschaft bei PROXIDRUGS leisten“,sagte Hessens Forschungsminister Timon Gremmels bei der Auftaktveranstaltung. „Die hier entwickelte neue Generation von Wirkstoffen hat das Potenzial, medizinische Grenzen zu verschieben. Wissenschaft ist ein entscheidender Faktor für mehr Innovationen und damit für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Dafür müssen wissenschaftliche Erkenntnisse schnell in die Anwendung und Umsetzung gebracht werden.“ Besonderes Gewicht erhält dieses Bekenntnis Gremmels auch dadurch, dass sein Ministerium ROXIDRUGS-Sprecher Ivan Đikić im Oktober 2024 eine LOEWE-Spitzenprofessur zuerkannt hat, für die das Land Hessen über einen Zeitraum von fünf Jahren rund drei Millionen Euro zur Verfügung stellt. Im Fokus dieser Auszeichnung steht die Entwicklung von proximitätsinduzierenden Medikamenten gegen Krebs. Aber auch neue Therapieansätze gegen Entzündungen, Infektionen und sogar neurodegenerative Krankheiten nehmen die Forscherinnen und Forscher von PROXIDRUGS aussichtsreich ins Visier, wie ihre jüngst publizierten Ergebnisse zeigen, die auf ihrer Website zugänglich sind.

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