Wenn man will, dann geht das

BioNTech-COO sprach über den Aufbau von Lieferketten

„Wir haben manche Verträge per Handschlag geschlossen und erst im Nachhinein ausformuliert“, sagte Dr. Sierk Poetting. „Das war wichtig und wenn man will, dann geht das.“ Der Chief Operating Officer von BioNTech berichtete in seiner Keynote beim Hauptstadt Summit des House of Pharma in der Hessischen Landesvertretung in Berlin davon, wie es ihm und seinem Team gelang, von Februar 2020 an ein außerordentlich komplexes Lieferantennetzwerk für die Produktion und Distribution von mRNA-Impfstoffen fast aus dem Nichts heraus aufzubauen. Damit beleuchtete Poetting das „Projekt Lightspeed“ aus einer Perspektive, die ebenso wichtig wie die von Forschung und Entwicklung ist, um dessen überragenden Erfolg zu verstehen, der im weltweit ersten hochwirksamen Impfstoff gegen das neue Coronavirus gipfelte.

Ausgangspunkt: Ein Gramm pro Woche

Seit seiner Gründung im Jahr 2008 verstand sich BioNTech als vollintegriertes Biotechnologieunternehmen, das seine Produktion nicht an Lohnhersteller auslagern, sondern selbst aufbauen wollte. „Wir werden so disruptive Sachen machen, das kann man gar nicht anderen überlassen“, sei der Konsens der Gründer gewesen, sagte Poetting. Deshalb übernahm BioNTech 2009 ein altes Freseniuswerk in Idar-Oberstein und lernte dort aus eigener Kraft, wie man unter GMP-Bedingungen messenger-RNA produziert. Mehr als ein Gramm RNA pro Woche konnte man dort nicht herstellen. Das entsprach 20.000 Impfstoffdosen und war für die klinische Prüfung von Krebsimpfstoffen, auf die sich die Firma ursprünglich konzentrierte, völlig ausreichend.

Voller Einsatz statt Konsolidierung

Dann tauchte im Januar 2020 plötzlich SARS-CoV-2 auf. Zwei Wochen, nachdem dessen Gensequenz publiziert worden war, las Uğur Şahin davon und erkannte geistesgegenwärtig die Gefahr einer weltweiten Pandemie. Sofort teilte er diese Einschätzung mit seiner Frau Özlem Türeci und dieses „berühmte Frühstücksgespräch zwischen unseren Gründern“, wie Poetting sagte, führte zwei Tage später, am 29. Januar, zu der BioNTech-Vorstandssitzung, in der das Gremium übereinkam, die eigene Firma mit aller Entschiedenheit zum Kampf gegen das Virus in Bewegung zu setzen, sechs Wochen bevor die Weltgesundheitsorganisation sich endlich dazu durchrang, Covid-19 zu einer globalen Pandemie zu erklären. „Eigentlich wollten wir das Jahr 2020 zur Konsolidierung nutzen, denn wir hatten gerade einen Börsengang hinter uns, der weniger Geld eingebracht hatte als erwartet.“ Stattdessen hieß es nun, ins Risiko zu gehen, und Finanzierung, Forschung, Entwicklung, Produktion mit voller Kraft auf die Entwicklung eines Covid-19-Impfstoffes zu auszurichten. „Wir haben alles gleichzeitig loslaufen lassen und vom Ende her gedacht“.

Zielvorgabe: Viele Kilogramm pro Tag

Wie viele Impfstoffdosen brauchen wir? Schnell hatte sich die initiale Planung von 50 Millionen auf eine Milliarde hochgeschraubt, schnell war klar, dass man dafür viele Kilogramm RNA pro Tag würde herstellen müssen. Die Beschaffung von Rohstoffen für die Produktion – das Sourcing – erwies sich als das komplexeste Problem. Es fehlte beispielsweise an Handschuhen und sterilen Plastiktüten und an Glasfläschchen, weil die plötzlich jeder brauchte, der sich daran machte, einen Impfstoff zu entwickeln. Es mangelte an manchen Enzymen, die es „zwar in großen, aber nicht in gigantischen Mengen ab“ und es mangelte an den Lipiden, die als Verpackung für die Applikation von messenger-RNA erfunden worden und auf dem Weltmarkt nur in Gramm-Mengen verfügbar waren, weil es bis dahin noch keine m-RNA über die klinische Prüfung hinaus geschafft hatte. Um all diese Materialien zu besorgen, baute BioNTech in kürzester Zeit ein Netzwerk von 80 Lieferanten auf, die ihrerseits die Produktion der benötigten Ware extrem schnell hochfuhren.

Aus dem Boden gestampft

Die Kooperation mit Pfizer, die BioNTech am 17. März 2020 einging, war nicht nur unerlässlich für die klinische Entwicklung des ersten mRNA-Impfstoffes, sondern auch für den rechtzeitigen Aufbau der notwendigen Produktionskapazitäten. Pfizer stellte eines seiner Werke in den USA auf RNA-Produktion um und überdies eine große Anlage im belgischen Puurs zur Verfügung. In der Zwischenzeit erwarb BioNTech von Novartis die ehemaligen Produktionsstätten der Behringwerke in Marburg und rüstete diese im Rekordtempo um. „Im Sommer 2020 konnten wir dort schon 10 Gramm RNA pro Lauf herstellen, Ende 2020, als die Zulassung kam, bereits 350 Gramm.“ Nimmt man die Prozesse der Aufreinigung, Formulierung und Abfüllung hinzu, dann beschäftigte BioNTech – zusätzlich zu seinem Sourcing-Netzwerk – 15 Lohnhersteller aus zehn Ländern, um den Impfstoff Cominarty® zu produzieren und in die Verteilung zu bringen. „Wir haben dieses ganze Netzwerk im Grunde genommen aus dem Boden gestampft“, sagte Poetting. „Wenn man mit allen freundschaftlich zusammenarbeitet, geht das gerade so. Wenn jeder auch nur ein bisschen gebockt und gezickt hätte, wäre das nicht so schön gewesen.“

„Die Software ist ein ganz anderer Schnack“

Eine Supply Chain aus annähernd 100 Gliedern könne man nur mit einer geeigneten Software ordentlich führen, sagte Poetting. „Eine Lieferkette physikalisch herzustellen ist eine Sache, sie elektronisch abzubilden, ist ein ganz anderer Schnack.“  Jeder einzelne Lohnhersteller hätte natürlich ein eigenes IT-System gehabt, viele SAP genutzt, „aber mal so eben einen SAP-Knotenpunkt da reinzusetzen, der das alles managt, hätte ungefähr drei bis vier Jahre gedauert.“ Also improvisierte man auf hohem Niveau, um Lagerbestände und Materialflüsse überblicken und steuern zu können. „Wir haben unsere IT-Abteilung zusammengetrommelt und gebeten, schnell Tools zu entwickeln, die all diese Contract Manufacturer zusammenstöpseln.“ Das müsse nicht 100-prozentig funktionieren, aber so gut, dass sich offene Fragen telefonisch ohne Weiteres regeln ließen – ein Vorhaben, das offenbar gelungen ist.

Autarkie für Afrika

Als man bei BioNTech Anfang 2020 über die Aufskalierung der Produktion nachgedacht habe, sei auch eine Container-Lösung im Gespräch gewesen, sagte Poetting. Diese Idee habe man zunächst zwar verworfen, inzwischen aber wieder aufgenommen, um afrikanischen Partnerländern eine autarke Impfstoffproduktion zu ermöglichen. 2024 soll die erste BioNTainer-Produktionsstätte in Ruanda in Betrieb gehen, der erste Spatenstich auf dem Gelände in der Hauptstadt Kigali fand im Juni 2022 statt. Zwei BioNTainer – einer für die mRNA-Produktion, einer für die Herstellung von abfüllfertigen Chargen des formulierten Impfstoffs – können dort künftig 50 Millionen Impfstoffdosen jährlich produzieren. Ähnliche schlüsselfertig verschiffte Anlagen sollen im Senegal und in Südafrika entstehen. Auch dafür müsse man jedoch lokale Lieferketten aufbauen und eng mit den nationalen Behörden zusammenarbeiten. Trainingsprogramme für die einheimischen Beschäftigten von BioNTainer-Anlagen – je 100 bis 120 im Dreischichtbetrieb – werden virtuell oder in Präsenz in Marburg stattfinden.

Nachhaltig sei das Investment in die BioNTainer auch deswegen, weil man darin mehr als nur Covid-19-Impfstoffe herstellen kann, eines Tages vielleicht sogar den Malaria-Impfstoff, an dem BioNTech zu arbeiten begonnen hat. Auch individuelle mRNA-Impfstoffe gegen Krebs sind in solchen Anlagen herstellbar – ebenso wie in der großen BioNTech-Fabrik in Marburg. „Wenn man das Lieferketten-Problem erst einmal für Infektionskrankheiten gelöst hat, kann man diese Lösung auf die Herstellung von individuellen Krebsimpfstoffen übertragen.“

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