Unbeugsam und unabhängig

Die Ständige Impfkommission (STIKO) lässt sich allein von sorgfältig ermittelter medizinischer Evidenz leiten

Wie schnell man als Gremium, das wissenschaftlichen Kriterien verpflichtet ist, sowohl zum Prügelknaben der Politik und mancher Leitmedien dieses Landes als auch zum Ziel von Bedrohungen und Beschimpfungen sogenannter Impfgegner werden kann, das musste die Ständige Impfkommission (STIKO) im Verlauf dieses Jahres immer wieder aufs Neue erfahren. Als umso wohltuender habe sie den Titel „Die Unbeugsamen“ empfunden, mit dem die ZEIT im August 2021 einen ausführlichen Beitrag über die Arbeit der STIKO überschrieben hatte, sagte deren stellvertretende Vorsitzende, Professorin Sabine Wicker, in einem Online-Vortrag im Rahmen der vom House of Pharma & Healthcare und der Stiftung Arzneimittelsicherheit Beatrix und Dr. Franz Stadler organisierten Veranstaltungsreihe zum Thema Impfstoffsicherheit. Denn die STIKO, das stellte Wicker in ihrem Vortrag klar, beugt sich weder dem Druck der Politik noch dem der Straße, sondern lasse sich in ihren Empfehlungen und deren eventuell notwendigen Anpassungen allein von sorgfältig geprüfter medizinischer Evidenz leiten. Die Kommission hat allerdings, das gestand Wicker ein, stellenweise Nachholbedarf in Sachen professioneller Kommunikation.

Fakten zur Definition des medizinischen Standards

Besonderer Beliebtheit erfreute sich bei Politikern und Journalisten in den vergangenen Monaten die Feststellung, die STIKO-Mitglieder arbeiteten ja im Gegensatz etwa zu den Beschäftigten der Zulassungsbehörden nur ehrenamtlich. Die damit verbundene Suggestion, bei der STIKO handele es sich um „eine Art Laienspielgruppe“, konterte Sabine Wicker mit dem Hinweis darauf, dass deren derzeit 18 Mitglieder hervorragend ausgewiesene Fachärzte aus zehn verschiedenen Disziplinen seien. Die STIKO bestehe aus Experten, die tatsächlich Ahnung vom Impfen hätten, und auf dieser Expertise aufbauend rationale, faktenbasierte Ratschläge erarbeiteten, die den medizinischen Standard für Impfungen definierten. Das tun sie gemäß Paragraph 20, Absatz 2 des „Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen“, kurz Infektionsschutzgesetz genannt. Darin heißt es: „Beim Robert Koch-Institut wird eine Ständige Impfkommission eingerichtet…Die Kommission gibt Empfehlungen zur Durchführung von Schutzimpfungen und zur Durchführung anderer Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe übertragbarer Krankheiten und entwickelt Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion und einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung.“

Diesen Auftrag erfüllte die STIKO von dem Augenblick an, in dem die Verfügbarkeit von Covid-19-Impfungen absehbar war. Am 9. November gab sie gemeinsam mit dem Deutschen Ethikrat und der Leopoldina eine Empfehlung zur Priorisierung der initial knappen Impfstoffe ab. Deren schönster Satz sei ihrer Ansicht nach: „Solidarbereite Personen zeigen Verantwortung gegenüber stark gefährdeten Personen und stellen dafür den eigenen Anspruch auf ihren raschen Gesundheitsschutz – zumindest zeitweilig – zurück.“ Wenn sie sich die langen Schlangen von Menschen anschaue, die derzeit für eine Booster-Impfung anständen, dann gelte dieser Satz bis heute, sagte Sabine Wicker, denn es komme nicht nur darauf an, so viele Menschen wie möglich, sondern auch darauf, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Menschen zu impfen.

Systematisch die Spreu vom Weizen trennen

Zehn Tage vor dem 27. Dezember 2020, an dem in Deutschland erstmals der Biontech/Pfizer-Impfstoff verabreicht wurde, veröffentlichte die STIKO ihre erste Empfehlung zur Covid-19-Impfung. Diese Empfehlung hat sie seither 15-mal aktualisiert, zuletzt Ende November für die Booster-Impfung von Erwachsenen und Mitte Dezember für die Impfung von 5- bis 11-jährigen Kindern. Um ihre Empfehlungen auf der Grundlage der jeweils neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und der besten verfügbaren Evidenz zu erarbeiten, folgt die STIKO einer Standard Operating Procedure (SOP) zur Nutzen-Risiko-Bewertung. „Dabei betrachten wir auch das Risiko, das dadurch entsteht, nicht geimpft zu werden.“ Die SOP verläuft entlang von vier Leitfragen, im englischen Akronym PICO genannt, was für Population, Intervention, Comparison und Outcomes steht. Dementsprechend lauten die Fragen: Welche Bevölkerungsgruppe nehmen wir in den Blick? Um welchen Impfstoff und um welches Impfschema geht es? Wie unterscheiden sich die Wirksamkeit und Verträglichkeit verschiedener Impfstofftypen? In Bezug auf welche klinischen Endpunkte können wir unsere Aussagen treffen? „Der Dreh- und Angelpunkt unserer Arbeit ist eine systematische Literaturrecherche“, betonte Professor Wicker. Das sei in dieser Pandemie angesichts von zigtausenden Publikationen auf Preprint-Servern keine triviale Aufgabe. „Sie werden aktuell auf den Preprint-Servern zu jeder Behauptung irgendeine Studie finden.“ Es sei aber notwendig, die Qualität jeder Studie adäquat einzustufen, bevor man sie in die Bewertung einbeziehen könne. „Sehr wichtig ist uns auch die Transparenz“, sagte Wicker. Um nachvollziehbar werden zu lassen, warum sie eine bestimmte Empfehlung abgebe, veröffentliche die STIKO dazu jeweils ausführliche Begründungstexte.

Verwirrung aus Verantwortung

Ausführlich erläuterte Wicker jede einzelne Aktualisierung, die die STIKO bisher zu Covid-19-Impfungen gegeben hat. Dabei kam sie auch auf die widersprüchliche Kommunikation zum AstraZeneca-Impfstoff im Frühjahr zu sprechen. Am 1. April hatte die STIKO diesen Vektorimpfstoff nur für unter 60-jährige empfohlen. „Vielleicht hätte uns das Datum sagen können, dass dies nicht wirklich eine gute Empfehlung war.“ Die STIKO habe jedoch angesichts einer lückenhaften Datenlage kaum eine andere Wahl gehabt. Klinische Prüfungsergebnisse zum AZ-Impfstoff habe es damals nur für eine niedrige dreistellige Zahl von über 60-jährigen Probanden gegeben. Weil kurz darauf die seltenen gefährlichen Nebenwirkungen des Impfstoffs evident und deren Vorkommen hauptsächlich bei unter 50-jährigen Patientinnen festgestellt wurde, musste die STIKO sechs Wochen später ihren ursprünglichen Rat umdrehen und den Impfstoff nur noch für über 60-jährige empfehlen. Das habe leider für Verwirrung in der Bevölkerung gesorgt. „Aber selbstverständlich müssen wir eine Empfehlung sofort ändern, wenn wir Evidenz für eine schwere Nebenwirkung haben.“

An der Grenze zur Erschöpfung

Noch sei nicht klar, sagte Wicker, ob der Kampf gegen die Pandemie von einer erfolgreichen Booster-Impfung oder von immer noch 13 bis 15 Millionen bisher ungeimpfter Erwachsener entschieden werde. Als Arbeitsmedizinerin an einer Universitätsklinik erfahre sie aber täglich, was es mit dem Personal mache, „wenn es Tag für Tag die Patienten sterben sieht und auf eine so schlimme Art sterben sieht.“ Die Grenze zur Erschöpfung sei erreicht. „Wir kämpfen in den Kliniken wirklich um jeden einzelnen Patienten, Tag für Tag, seit vielen, vielen Monaten.“ Sie rate deshalb dringend dazu, nicht nur die Impfquote zu erhöhen und das Boostern schnellstmöglich voranzutreiben, sondern auch Kontakte weiterhin so weit wie möglich zu reduzieren, vor allem zwischen ungeimpften Personen. 

Größere Geschäftsstelle vonnöten

Sie habe sich mit ihrem Vortrag als „eine exzellente Botschafterin der STIKO“ erwiesen, dankte Manfred Schubert-Zsilavecz, der Präsident des House of Pharma & Healthcare, der Referentin. Er würde sich wünschen, die STIKO würde häufiger in solchen Formaten kommunizieren. „Am Thema Kommunikation müssen wir mehr arbeiten“, konzedierte Sabine Wicker, selbst wenn dies primär eine Aufgabe der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sei. Zu diesem Zweck sei es unbedingt erforderlich, die Geschäftsstelle der STIKO auszubauen. Dort arbeiten derzeit nur drei Vollzeitkräfte und eine Verwaltungsangestellte. „Ich finde es aber wichtig, dass wir weiterhin ehrenamtlich arbeiten“, sagte Wicker. „Die STIKO sollte keine Unterstelle des Bundesgesundheitsministeriums werden. Jedes ihrer Mitglieder sollte seine Empfehlung allein auf Grundlage des eigenen Wissens und Gewissens abgeben können.“

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