Kooperation in Hessen setzte Maßstäbe

Politik, Wirtschaft und Wissenschaft bündelten während der Pandemie beispielhaft ihre Kräfte

Die Zusammenarbeit zwischen „Industrie, Politik und Wissenschaft in Zeiten der Pandemie“ hat in Hessen besonders gut funktioniert. Das verdeutlichte die gleichnamige Podiumsdiskussion anlässlich der 10. Jahrestagung des House of Pharma & Healthcare, an der – moderiert von ZEIT-Redakteur Jan Schweitzer – die Chefvirologin des Universitätsklinikums Frankfurt, Professor Sandra Ciesek, der Hessische Sozialminister Kai Klose und der Vizepräsident des House of Pharma & Healthcare, Professor Jochen Maas, teilnahmen. „Nichts war so wertvoll in dieser Pandemie wie die enge Zusammenarbeit mit der Wissenschaft“, sagte Klose. Mit Genugtuung verwies er auf die schnelle Genehmigung des Landes für die Produktion des BioNTech-Impfstoffes in den Anlagen der ehemaligen Behringwerke in Marburg. „Besonders für Hessen war es auch“, ergänzte Sandra Ciesek, „dass wir mit dem Land zusammen Alltagsstudien in Schulen unternommen haben, die dazu beitragen konnten, das Leben zu normalisieren.“ Jochen Maas erinnerte an die unverzichtbare Rolle der Firma Merck in Darmstadt bei der Produktion von Lipidpartikeln für die mRNA-Impfstoffe und an die Abfüllung des in Marburg produzierten Impfstoffs im Industriepark Höchst bei Sanofi-Aventis Deutschland, als dessen Geschäftsführer Forschung & Entwicklung er fungiert. Auch wenn es ein wenig pathetisch klinge, dürfe man sagen, dass Hessen seinen Teil zur Rettung der Welt beigetragen habe.

Ein Vorbild für den Rest der Republik

Zu einem bundesweiten Vorbild wurde der Planungsstab zur Koordination der klinischen Versorgung von Corona-Patienten, den das Hessische Sozialministerium schon im März 2020 unter Leitung des Ärztlichen Direktors des Universitätsklinikums Frankfurt einrichtete. In jeder der sechs Versorgungsregionen Hessens wurde ein koordinierendes Haus der Maximalversorgung bestimmt. „So konnten die Patienten mit der schwersten Erkrankung die bestmögliche Behandlung bekommen“, sagte Klose. Diese Struktur habe sich bis heute bewährt, weil sie neben dem stationären auch den niedergelassenen Bereich umfasse. „Jahrelang haben wir über sektorenübergreifende Versorgung diskutiert und unter dem Druck der Pandemie hat sie plötzlich stattgefunden.“ Dabei sei viel Vertrauen gewachsen. Konkurrenzen zwischen den Krankenhäusern seien in den Hintergrund getreten. „2020 war der eigentliche Gegner nicht der Konkurrent, sondern der eigentliche Gegner war das Virus“, kommentierte Maas. Aus Sicht der Universitäten sei das zwar genauso gewesen, sagte Ciesek, allerdings „gab es oft Schwierigkeiten, wenn wir als Universität Verträge mit Pharmaunternehmen schließen wollten. Da prallen Welten aufeinander, hier müssen wir in Zukunft schneller werden.“ Dem stimmte Maas zu: „Wir müssen diese Art der Public-Private-Partnerships unkomplizierter gestalten. Da sind uns die USA voraus, da geht es unbürokratischer zu.“

„Wissenschaft am offenen Herzen“

Das öffentliche Bild der Wissenschaft wurde von der Pandemie einem grundlegenden Wandel unterzogen. „Dass Wissenschaft nicht eine einheitliche Meinung darstellt, die das absolut Richtige vermittelt, dem man unbedingt folgen muss, haben Politik und Öffentlichkeit im Laufe dieses Jahres gelernt“, sagte Maas. Der wissenschaftliche Diskurs erwachse aus Widersprüchen und orientiere sich an der jeweiligen Datenlage. Normalerweise vollziehe er sich in langen Zeiträumen innerhalb des Wissenschaftsbetriebs. Die Pandemie stülpte ihn aber kurzgetaktet nach außen. „Die Leute hingen an den Lippen der Virologen und irgendwann haben sie gesehen, die sagen ja gar nicht alle dasselbe.“ Jede neue Publikation zum Thema Corona sei für die Wissenschaft nur ein kleiner Teil eines großen Puzzles, sagte Sandra Ciesek. „Das verstehen viele Menschen aber nicht.“ Wenn die Medien eine bestimmte Studie schlagzeilenträchtig hochstilisierten, verwirre das diejenigen, „die nicht so im Wissenschaftsprozess stecken wie wir“. Kai Klose bestätigte: „Wir haben Wissenschaft sozusagen am offenen Herzen beobachtet.“

Die Crux mit den sozialen Medien

Bei dieser kommunikativen Operation fallen der Wissenschaft jedoch häufig die sozialen Medien in den Arm. „Ich habe den Eindruck, die Skeptiker sind dort aktiver als die Gegenseite“, sagte Maas. „Zumindest lauter“, sagte Ciesek, die auf Twitter eine große Gefolgschaft hat. Er frage sich, so Klose, „ob wir mit der Schluckimpfung gegen Kinderlähmung so weit gekommen wären, wenn es damals schon soziale Medien gegeben hätte, die so viel Halb- und Nichtwissen verbreiten.“ Auf der anderen Seite habe sein Ministerium mit der Verbreitung von Studienergebnissen über Twitter auch positive Erfahrungen gemacht. Zu solchen Erfahrungen zählte Jochen Maas die Tatsache, „dass in der Pandemie die Wissenschaftler selbst an die Öffentlichkeit gegangen sind, um gut und verständlich zu erklären“. Das Paradebeispiel dafür seien Christian Drosten und Sandra Ciesek mit ihren millionenfach gehörten NDR-Podcasts. „Als Wissenschaftler kann man dann aber wirklich nur zu den Themen etwas sagen, die im eigenen Fachgebiet liegen“, sagte Ciesek. Das aber machten manche Virologen leider nicht, sondern verhielten sich wie Politiker, die über alles Mögliche jenseits ihrer Kompetenzen redeten.  Ein „Crashkurs in Sachen Kommunikation“ sei ihrer Ansicht nach ein empfehlenswerter Bestandteil wissenschaftlicher Ausbildung, zumal das Interesse der Bevölkerung, Informationen aus erster Hand zu erhalten, groß sei, auch auf anderen Gebieten wie etwa der Klimakrise.

„Eine gewinnbringende Ergänzung“

Er könne sich gut an die erste Pressekonferenz nach dem Rückkehrflug aus Wuhan im Februar 2020 erinnern, sagte der Hessische Sozialminister. Seither hätten alle Beteiligten eine steile Lernkurve durchlaufen. Er wünsche sich, dass die Verbindungen zwischen ihnen eng und die Gesprächskanäle geöffnet blieben. „Die Politik hat nicht die tiefe Kenntnis von den Dingen wie die Wissenschaft“, sagte Klose. „Umgekehrt ist die Wissenschaft nicht in der Verantwortung, Entscheidungen zu fällen, die die ganze Gesellschaft betreffen. Wenn wir uns dieser unterschiedlichen Rollen bewusst sind, führt das zu einer gewinnbringenden Ergänzung.“

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