Europa wird keine Insel

Abhängigkeiten der Gesundheitswirtschaft lassen sich dennoch reduzieren

Eine neue Generaldirektion wird in der Europäischen Union nicht alle Tage eingerichtet. Die European Health Emergency Preparedness and Response Authority (HERA) ist in dieser Hinsicht also eine Ausnahme. Ihre Gründung am 16. September 2021 entsprang der schockartigen Erfahrung der Corona-Pandemie. Mit einem Etat von 6,1 Milliarden Euro für den Zeitraum von 2022 bis 2027 soll sie der Prävention und schnellen Bewältigung von Gesundheitskrisen dienen. „Wir haben schon einiges erreicht, aber es ist natürlich nicht so, als wenn man das Licht anknipst und plötzlich funktioniert alles“, bilanzierte HERAs geschäftsführender Direktor Dr. Wolfgang Philipp das erste Jahr seiner Behörde. „Die bestehenden strategischen Abhängigkeiten müssen gemanagt werden“, sagte er im Rahmen der Podiumsdiskussion „Wie unabhängig ist die europäische Gesundheitswirtschaft im Notfall wirklich?“ beim Hauptstadt Summit des House of Pharma and Healthcare in der Hessischen Landesvertretung in Berlin, an der auch IDT Biologika-Managerin Dr. Simone Kardinahl und AbbVie-Manager Olaf Weppner teilnahmen.

 

Künftige Gesundheitsgefahren im Blick

„Epidemic Intelligence“ – also das Sondieren und Erkennen künftiger Gesundheitsgefahren – ist die erste Aufgabe von HERA, die die Behörde im zweiten Schritt mit „Supply Chain Intelligence“ verknüpft. „Wir schauen uns die kritischen Lieferketten an, die für Medizinprodukte relevant sind, und gehen in unserer Analyse dann weiter über Forschung und Entwicklung und Produktion bis hin zur Verteilung dieser Produkte im Notfall.“ Die Reihenfolge der Analysen orientiere sich dabei an einer Risikoabschätzung. Für den Aufbau eines Vorrats von Arzneimitteln und Medizinprodukten gegen chemische und radionukleare Gefahren habe man bereits angefangen, 550 Millionen Euro zu investieren. „Extrem genau“ habe man sich dann den Bereich der Antibiotika vorgenommen und dabei erkannt, dass für alle verfügbaren Antibiotikaklassen strategische Abhängigkeiten bestünden, sei es für die Herstellung bestimmter Vorstufen oder im weiteren Verlauf der Produktionsprozesse. „Wir analysieren das und legen fest, welche Produkte in der Belieferung abgesichert sein müssen. Das werden wir für andere Medizinprodukte auch so machen.“

 

Vorbereitung auf das Unbekannte

Simone Kardinahl, die bei IDT Biologika die Entwicklung neuer Impf- und Wirkstoffe verantwortet, schilderte die Beteilung ihres Unternehmens am Pandemie Readiness Programm, mit dem die Bundesregierung nach den Worten von Bundesgesundheitsminister Lauterbach versuchen will, „zukünftige Pandemien zu dem Zeitpunkt noch zu beherrschen, wo ein Ausbruch so behandelt werden kann, dass eine Pandemie erst gar nicht entsteht“. IDT beteiligt sich an diesem Programm durch die Vorbereitung auf einen potentiellen neuen Vektorimpfstoff. „Wir setzen sämtliche Systeme dafür auf, um ab Mitte nächsten Jahres unsere Readiness erklären zu können.“ Im Unterschied zur Corona-Pandemie „bereiten wir uns auf etwas vor, was wir noch gar nicht kennen“. Dabei konstruiere man auf Basis wissenschaftlich fundierter Annahmen Lieferketten und trete mit den entsprechenden Lieferanten bereits in Kontakt. Für bestimmte Materialgruppen müssten jeweils zwei Herstellorte innerhalb der EU gefunden werden. „Das ist neu für uns, aber 75 Prozent haben wir schon gefunden.“ Allein sei das kaum zu leisten, die Unterstützung durch die Bundesregierung und das Paul-Ehrlich-Institut sei jedoch hervorragend.

 

Resilienz braucht Innovationskraft

„Aus der Pandemie kommend, sind wir alle glücklich darüber, dass wir es aufgrund von  Innovationskraft geschafft haben, diese Krise in den Griff zu bekommen“, sagte Olaf Weppner, der die Commercial Operations der deutschen Tochtergesellschaft von AbbVie führt. „Damit so etwas auch in Zukunft funktionieren kann, sollten wir auch über Gesundheit als Wertschöpfungsfaktor sprechen.“ Momentan sehe die Industrie ihre Innovationskraft durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz gefährdet, in dessen Folge sich die Vergütung für patentgeschützte Arzneimittel verringern werde. „Dass wir gerade in diesen innovativen Bereichen resiliente Lieferketten haben, haben wir während der Pandemie bewiesen.“ Diese Lieferketten weiterhin doppelt und dreifach abzusichern, werde aber kaum möglich sein, „wenn man in einem schweren Umfeld agieren muss, in dem die Investitionen nicht zurückvergütet werden“. Im Generikabereich habe der Gesetzgeber durch die Rabattverträge „die Zitrone ausgepresst“ und damit den Exodus der Wirkstoffproduktion nach Asien veranlasst. Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz könnte dazu führen, dass etwas Ähnliches bald im patentgeschützten Bereich passiere.

 

Aushöhlung von Standortfaktoren?

Wertschöpfungsketten im Vorhinein zu planen, sei die richtige Antwort, um mit Unsicherheit umzugehen, sagte Simone Kardinahl. Um diese Pläne umzusetzen, brauche man aber auch qualifiziertes Personal. „Wir haben während der Pandemie gesehen, wie schwierig es ist, innerhalb weniger Monate Mannschaften aufzustellen.“ Und das Thema des Fachkräftemangels werde akuter. "Ich hätte nie erwartet, wie schwierig es werden kann, Positionen zu besetzen, das gilt im operativen Bereich genauso wie bei Führungskräften.“ Noch lasse sich gutes Fach- und Führungspersonal in Deutschland finden, wenn auch vielleicht nicht in ausreichender Zahl meinte Olaf Weppner, weil es hierzulande viele positive Standortfaktoren gebe. Entgegen ihrer erklärten Absicht, Deutschlands Potenzial im biopharmazeutischen Bereich voll auszuschöpfen, sei die Bundesregierung dabei, diese Standortfaktoren auszuhöhlen.

 

Die Kunst der Sinfonie

„Bei klinischen Studien liegt Deutschland weltweit nur noch auf Platz sechs“, nannte  Weppner als Beispiel. Wenn das so weitergehe, würden im Lauf der nächsten Dekade die avancierten Technologien und die besten Köpfe in innovationsfreundlichere Länder abwandern, dann drohe „eine geopolitische Umschichtung von Innovationskraft und Brainpower“. Wie man diese Gefahr abwenden könne, dafür gebe es „in vielen Bereichen Ideen, die für sich genommen gut sind, im Konzert aber nicht unbedingt eine Sinfonie ergeben“. Es komme deshalb auf „siloübergreifendes Denken“ an. Dem könne er bis zu einem gewissen Punkt zustimmen, sagte Philipp. „Bei HERA versuchen wir dieses Denken zu realisieren, sowohl zwischen Disziplinen wie Industriepolitik, Forschung und Gesundheit als auch im Austausch zwischen den Mitgliedsstaaten. „Wir brauchen eine vernünftige politische Koordinierung.“

 

Auf Rückholung wichtiger Wirkstoffe konzentrieren

Dass es unrealistisch ist zu glauben, dass europäische Gesundheitssystem könne als Insel der Autarkie unabhängig vom Rest der Welt werden, darüber waren sich die Podiumsteilnehmer einig. „Wir müssen uns auf die Rückholung der Wirkstoffe konzentrieren, die von großer Bedeutung sind“, sagte Weppner. „Wir werden dafür sorgen, dass der im Aufbau befindliche Europäische Gesundheitsdatenraum mit Leben gefüllt wird“, nannte Wolfgang Philipp einen weiteren wichtigen Aspekt. Als sie neulich  das Pandemie Readiness Programm beim World Vaccine Kongress in Barcelona vorgestellt habe, hätten ihr anschließend viele Zuhörer gesagt, wie großartig sie es fänden, dass so etwas in Deutschland verwirklicht werde.  „Da ist mir erst bewusst geworden, welches Privileg das ist“, sagte Simone Kardinahl. „Im Alltag sieht man vorrangig die Dinge, die schlecht laufen, aber dieses Programm ist ein gutes Gegenbeispiel. Es zeigt, wir können Probleme lösen.“ 

 

Copy-Right Fotos: Johannes Walther

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