Eine Verdachtsmeldung ist noch keine Nebenwirkung

Der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts eröffnete Online-Vortragsreihe über Impfnebenwirkungen im Kontext der Covid-19-Pandemie

„Der Hauptsatz, den wir uns merken können: Nach vielen hundert Millionen Impfungen weltweit wissen wir zu vielen Impfstoffen wirklich im Detail, welche Nebenwirkungen sie mit sich bringen und wie selten diese sind. Das ist ein wertvolles Basiswissen, auf dem wir aufbauen können für die Zukunft.“ Das sagte Professor Klaus Cichutek, der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), im Gespräch nach der Präsentation, mit der er die vierteilige Online-Vortragsreihe „Unerwünschte Arzneimittelwirkungen im Kontext mit Covid-19 Impfungen“ eröffnete, die das House of Pharma & Healthcare zusammen mit der Stiftung für Arzneimittelsicherheit veranstaltet. Cichutek, dessen Institut als Forschungseinrichtung, agiler Entwicklungspartner, Sicherheitskontrolleur und Zulassungsbehörde in Deutschland mit im Zentrum der Pandemie stand, informierte die Teilnehmer des Online-Perspektivengesprächs aber auch darüber, „was heute noch sozusagen als Postvac-Syndrom des PEI von der Presse für Anforderungen an uns gestellt werden in der Diskussion“. Damit spielte er weniger auf die in den sozialen Medien unaufhörlich fortlaufende Diskussion über angebliche Impfrisiken an, sondern vor allem auf die auch in den traditionellen Medien weitverbreitete Unkenntnis über den Unterschied zwischen Verdachtsmeldungen und Nebenwirkungen. „Dieser Unterschied ist manchmal nicht einfach zu vermitteln, wir haben unser Bestes getan, aber sicher hat das nicht vollständig zum Ziel geführt.“ Zwar sollte man nicht glauben, tatsächliche Impfgegner ließen sich überzeugen. „Aber das ist eine Gruppe, die sehr laut, aber sehr klein ist.“ Deshalb dürfe man nicht darin nachlassen, deren Argumente immer wieder mit aufgeklärter Information zu entkräften.

Höhere „Reaktogenität“ war akzeptabel

„Das Spontanmeldesystem ist dafür da, Risikosignale schnell zu entdecken“, sagte Cichutek. „Es meldet uns Verdachtsfälle. Das sind körperliche Reaktionen, von denen vermutet wird, dass sie im kausalen Zusammenhang zur Impfung stehen. Es sind aber noch keine Nebenwirkungen“. Ob es sich um solche handele, wurde und wird von den Experten seiner Behörde jeweils gewissenhaft nach klar definierten Kriterien untersucht. Bei den Covid-19-Impfungen zeigte sich, dass die meisten Verdachtsfälle sich auf Impfreaktionen bezogen, die innerhalb der ersten sieben Tage nach einer Impfung auftraten und nach ein bis drei Tagen wieder abgeklungen waren. Schmerzen an der Injektionsstelle seien bei den mRNA-Impfstoffen fast immer aufgetreten, sehr häufig aber auch Kopf-, Muskel- und Gelenkschmerzen, ferner Frösteln, Fieber, Schwellungen sowie Übelkeit und Erbrechen. „Das sind schon heftige Impfreaktionen, die wir aber im Sinne des Schutzes vor Covid-19 für akzeptabel hielten.“ In der klinischen Prüfung beider mRNA-Impfstoffe seien in seltenen Fällen akute unvollständige Lähmungen der mimischen Gesichtsmuskulatur (Fazialisparesen) aufgetreten, die aber schnell wieder zurückgegangen seien. Unbestritten sei die „Reaktogenität“ sowohl von mRNA- als auch von vektorbasierten COVID-19-Impfstoffen höher als die der bekannten saisonalen Grippeimpfstoffe.

Kleiner zehn von hunderttausend

Bis zum 30. März 2022 sind nach Angaben des PEI-Präsidenten in Europa ungefähr eine Milliarde Einzeldosen verschiedener Covid-19-Impfstoffe verabreicht worden. Ein Verdacht auf eine schwere impfbedingte Nebenwirkung wurde bei weniger als zehn von 100.000 Impfungen gemeldet. „Kopfschmerzen bereitet uns natürlich die Herzmuskelentzündung, die nach der zweiten Impfung bei jungen Männer vermehrt beobachtet wurde.“ Es handele sich um eine sehr seltene Nebenwirkung, die meistens gut ausgegangen und beim Moderna-Impfstoff etwas häufiger als bei demjenigen von BioNTech vorgekommen sei. Anfangs sei auch ein möglicher anaphylaktischer Schock unmittelbar nach der Impfung ein großes Thema gewesen. Tatsächlich trete er nach weniger als einer von 100.000 Impfungen auf. „Wir haben auf dieses Risiko reagiert, indem wir bei jeder Impfung eine Nachbeobachtungszeit von 15 Minuten vorgeschrieben haben, was dazu führte, dass so gut wie kein Fall von Anaphylaxie verpasst wurde.“ Besonders wichtig sei es gewesen, betonte Cichutek, dass „wir sehr früh das Risiko einer thrombotischen Thrombozytopenie erkannt haben“. Dieses Syndrom führte zu einigen Todesfällen nach Verabreichung des Astra-Zeneca-Impfstoffs. Vorübergehend wurde die Impfung mit diesem Vakzin gestoppt. „Wir haben dann in der ständigen Impfkommission daran gearbeitet, die Altersempfehlungen so umzustellen, dass nur noch Personen geimpft wurden, bei denen das Risiko für dieses Syndrom gering war.“ Zu den Autoren der Publikation im New England Journal of Medicine, die den molekularen Mechanismus dieser Nebenwirkung aufklärten, gehörte eine Wissenschaftlerin des PEI. Für ein anderes Impfrisiko, das theoretisch denkbar sei, habe sich dagegen keinerlei praktische Evidenz ergeben, sagte Cichutek. Für das Risiko nämlich, das eine verimpfte mRNA im Zytoplasma in ein Stück DNA umgeschrieben werde, die anschließend in den Zellkern wandere, um sich in dessen DNA einzuschreiben und dort Mutationen auszulösen. „Wir wissen, dass eine solche Umschreibung so gut wie nicht stattfindet.“

So viele Meldungen wie möglich erwünscht

Wenn auch Verdachtsfallmeldungen keine direkten Rückschlüsse auf eine Kausalität zur Impfung oder auf die Häufigkeit einer unerwünschten Reaktion zuließen, so sei es im Sinne einer raschen Detektion von möglichen Risikosignalen doch ausdrücklich erwünscht, dass auch solche Reaktionen berichtet werden, deren Zusammenhang mit der Impfung fraglich sind, sagte Cichutek. Auf die Frage aus dem virtuellen Publikum, ob denn die Melderate nicht viel zu niedrig sei, um ein verlässliches Bild aller Nebenwirkungen zu bekommen, entgegnete er: „Wir bekommen aus Deutschland sehr viel mehr Meldungen als bei jedem Impfstoff zuvor, wir haben einen kompletten Überblick über die Meldungen aus den EU-Mitgliedsstaaten, wir bekommen alle Daten aus den USA, das heißt wir haben ein umfassendes Bild und gehen jedem Verdacht nach.“ Im Übrigen sei es falsch zu mutmaßen, Ärzte und Apotheker würden Verdachtsfälle nicht ausreichend melden. „Die Fachleute in den Gesundheitsberufen haben eine Meldeverpflichtung und hier kommen sie der nach.“ Im Zweifel könnten sich betroffene Patienten oder deren Angehörige auch direkt über die Website des PEI melden.

Kein deutlicher Anhaltspunkt für Long-Covid

„Alle Nebenwirkungen der COVID-Impfstoffe haben wir im Laufe der Jahre in den Fachinformationen festgehalten“, sagte Cichutek. „Wir haben früh Transparenz geschaffen, um die Konfidenz in die Impfstoffe zu stärken. Wir haben periodische Sicherheitsberichte über alle uns gemeldeten Verdachtsfälle geschrieben, ein Aufklärungsmerkblatt immer wieder aktualisiert und Ärzte und Apotheker gegebenenfalls über Rote-Hand-Briefe informiert." In der Presse würden Nebenwirkungen allerdings oft mit Impfschäden verwechselt. Damit habe das PEI als Bundesbehörde jedoch nichts zu tun. Verfahren zur Anerkennung von Impfschäden würden ausschließlich von den zuständigen Behörden der Bundesländer bearbeitet, wie etwa den Versorgungsämtern. „In der Presse ist auch Long-Covid ein großes Thema und natürlich muss den davon betroffenen Patienten geholfen werden.“ Seiner Ansicht nach könne aus den Spontanmeldungen auch im internationalen Kontext derzeit kein Signal für anhaltende, mit Müdigkeit einhergehende Beschwerden nach einer Covid-19-Impfung detektiert werden. Recherchen des PEI zufolge waren am Stichtag 30. Juni 2022 nach rund 183 Millionen Covid-19-Impfungen in Deutschland 472 Long-Covid-ähnliche Ereignisse gemeldet. Davon erfüllten jedoch nur 42 mehr als eines der vier diagnostischen Kriterien für Long-Covid.

Deutschlands große Chance

Was für ihn die Kernlektion aus der Pandemie sei, wenn er an die nächste denke, wurde Klaus Cichutek in der Diskussion gefragt. „Ganz klar: Wir müssen bei den Impfstoffherstellern Kapazitäten sichern, die bereitstehen, um schnell neue Impfstoffe gegen neue Erreger zu entwickeln“, antwortete er. Die mRNA-Plattform sei dafür ideal geeignet, „wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Kapazitäten wie auch das Ausgangsmaterial im Bedarfsfall da sind“. Deutschland habe die große Chance, „ein Land zu werden, dass nicht nur mRNA-Impfstoffe schnell entwickeln kann, sondern auch moderne Arzneimittel.“ Dazu müsse aber die Solidarität, die die Jahre der Pandemie geprägt habe, wieder da sein; dazu müsse die Regierung mitziehen, darauf müssten die Gesetze und die Fördermaßnahmen ausgerichtet werden; dafür müssten die akademischen und die industriellen Entwickler an einem Strang ziehen. Dann könne es gelingen, „den Schatz an Arzneimitteln, die hierzulande erforscht und entwickelt werden, noch besser zu heben.“

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