Der Anfang vom Ende der Corona-Ära?

Marburger Impfstoffexperte spricht über die Perspektiven von COVID-19-Vakzinen

 

Der Weckruf durch das Ebola-Virus, eine nie dagewesene Intensität der Kooperation zwischen Akademia, Industrie und Behörden, der beherzte Einsatz innovativer biotechnologischer Verfahren, eine bisher unbekannte Agilität in der klinischen Prüfung und eine hohe Risikobereitschaft der Industrie – das sind nach Ansicht des renommierten Marburger Virologen Prof. Stephan Becker die fünf wesentlichen Gründe für einen Erfolg, den er „wirklich atemberaubend“ nannte: Nach knapp einjähriger Entwicklungszeit werden die beiden ersten COVID-19-Impfstoffe voraussichtlich in diesem Dezember ihre erste Zulassung erhalten, obwohl die Entwicklung eines Impfstoffs bis zur Marktreife normalerweise 15 Jahre dauert, und im kommenden Jahr werden ihnen wahrscheinlich einige weitere COVID-19-Impfstoffe folgen. Becker, der selbst maßgeblich an der Entwicklung eines solchen Impfstoffs beteiligt ist, sprach bei einem Perspektivengespräch des House of Pharma & Healthcare, zu dem sich per Zoom über 300 Teilnehmer zugeschaltet hatten. 

 

Ein Weckruf aus Westafrika

Die Ebola-Epidemie, die 2014 in Westafrika ausbrach, forderte 11.000 Todesopfer. „Das war ein dramatisches Ereignis.“ Denn plötzlich wurde offensichtlich, dass dieses Virus Pandemiepotenzial hat. „Bis dahin hatte man gedacht, nur Grippeviren könnten Pandemien auslösen.“ Die Weltgesundheitsorganisation, Pharmaunternehmen und philanthropische Stiftungen erkannten, dass Ebola-Impfstoffe dringend notwendig sind. „Zwei dieser Impfstoffe sind inzwischen auf dem Markt.“ Deutlich sei aber schon damals geworden, dass man auch auf andere bereits bekannte und möglicherweise neu auftauchende gefährliche Viren eingestellt sein müsse. Die WHO erstellte eine Prioritätenliste. Als weltumspannende privat-öffentliche Partnerschaft wurde schließlich 2017 beim Weltwirtschaftsforum in Davos die Coalition für Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) gegründet, um für den Notfall gewappnet zu sein.

 

Antigen-Fähren aus deutscher Infektionsforschung

Auf der WHO-Prioritätenliste standen auch die 2002 bzw. 2012 erstmals aufgetauchten SARS- und MERS-Coronaviren. Weil beide aber nicht schon während der Inkubationsphase, sondern erst von bereits erkrankten Patienten übertragen wurden, ließen sie sich relativ gut eindämmen. Das SARS-Virus verschwand nach wenigen Monaten ganz von der Bildfläche, für MERS – das Middle-East Respiratory Syndrome – werden immer wieder einmal sporadische Fälle berichtet. Gegen das MERS-Virus begann Stephan Becker 2013 zusammen mit drei Partnerinstituten des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) einen Impfstoff zu entwickeln, der das in Zellkulturen von Hühnerfibroblasten zur Harmlosigkeit abgewandelte Pockenvirus MVA als Vektor benutzt, indem er in dessen Genom ein Bruchstück des MERS-Virus als Antigen einfügt. Die Wirksamkeit in Mäusen und Kamelen (den Überträgern von MERS) konnte schon 2014 bewiesen werden. Dann unterbrach Becker die Arbeit daran, weil er in die Entwicklung eines Ebola-Impfstoffs eingebunden war (vgl. Perspektivengespräch des House of Pharma vom 20. Juni 2016). 2017 setzten Becker und seine DZIF-Partner die Arbeit an dem MERS-Impfstoff mit dessen Eintritt in klinische Studien aber fort – und legten damit die Basis für die schnelle Entwicklung ihres SARS-CoV-2-Impfstoffs. Dieser beruht auf demselben Prinzip einer viralen MVA-Antigenfähre wie der MERS-Impfstoff und wird in diesem Dezember in die zweite Phase der klinischen Prüfung eintreten.  

 

Biontech produziert in Marburg

Vektorimpfstoffe, wie sie Becker entwickelt, verkörpern im Vergleich zu klassischen Impfstoffen, die inaktivierte oder abgeschwächte Viren oder Proteinbruchstücke von diesen enthalten, innovative Ansätze. Was freilich nicht heißt, dass nicht auch klassische Ansätze Erfolg versprechend gegen SARS-CoV-2 sind. Mit Vektorimpfstoffen gibt es – wie etwa im Fall von Ebola – bereits einige praktisch-medizinische Erfahrung. Das gilt dagegen nicht für die derzeitigen Frontrunner der COVID-19-Impfstoffkandidaten von Biontech und Moderna, deren klinische Prüfung jeweils einen 95-prozentigen Schutz vor einer COVID-Erkrankung zeigte. Sie schleusen in Lipid-Nanopartikeln verpackte Boten-RNA des Virus in die Vakzinierten ein, um sie zur Produktion des Antigens anzuregen, das eine Immunantwort auslöst. Solche Boten-RNA-Impfstoffe sind bisher in keiner Indikation zugelassen. Sie verkörpern sozusagen Innovation pur. Es könne sein, dass sie „den Anfang vom Ende der Corona-Ära“ markierten, habe Biontech-Gründer Ugur Sahin gesagt, zitierte Stephan Becker. „Ich hoffe, er hat recht.“ Biontech habe versprochen, bis Ende 2020 50 Millionen und bis Ende 2021 1,3 Milliarden Dosen des Impfstoffs zu produzieren. „Das ist eine erstaunliche Zahl“, sagte Becker, der sich freut, dass Biontech in einer Anlage in Marburg produzieren wird.

 

Agil und kooperativ wie nie zuvor

Die drei Phasen der klinischen Prüfung eines Impfstoffs liefen traditionell sequentiell ab. Erst wenn eine Phase nach ein bis drei Jahren vollständig abgeschlossen war, wurde mit der Planung der nächsten begonnen. „Die Prüfung der COVID-Impfstoffe läuft dagegen überlappend“, erklärte Becker. „Sobald die erste Sicherheitsbewertung in Phase I nach vier bis acht Wochen durchlaufen ist, kann Phase II schon geplant werden.“ Die Sicherheitsüberprüfung erfolge dabei immer durch ein unabhängiges Gremium, „das nicht mit dem Hersteller verbandelt ist“. Angesichts der rasend schnellen Verbreitung von COVID-19 verlief die Rekrutierung Zigtausender Probanden für die Phase-III-Studien zudem viel zügiger als sonst möglich. Noch während der klinischen Prüfung tauschen die Unternehmen fortlaufend Daten mit den Zulassungsbehörden aus. Diese exzellente Kooperation verkürzt den regulatorischen Prozess um den Faktor 12: Was früher ein Jahr dauerte, dauert jetzt einen Monat. Auf der anderen Seite nehmen die Hersteller noch während der klinischen Studien die Produktion ihres jeweiligen Impfstoffkandidaten auf, „mit dem Risiko, dass das Produkt weggeworfen werden muss, wenn es nicht zugelassen wird.“

 

Die Zulassung allein ist nicht genug

Das mit diesem riskanten Aufbau von Produktionskapazitäten verbundene Investitionsproblem sei inzwischen gelöst, ergänzte der Vizepräsident des House of Pharma & Healthcare, Prof. Jochen Maas, der die Forschung und Entwicklung bei Sanofi-Aventis Deutschland verantwortet. „Dabei haben auch viele politische Programme geholfen.“ Eine riesige Herausforderung bestehe aber weiterhin darin, die Produktion überhaupt zu realisieren. „Wir brauchen weltweit zehn Milliarden Dosen dieses Impfstoffs“, sagte Maas. Das sei auch ein Materialproblem. Die USA zum Beispiel bräuchten für eine kombinierte Grippe-Corona-Impfung ihrer Bevölkerung 800 Millionen Kanülen und Spritzen, verfügten derzeit aber nur über 15 Millionen. „Diese Lücke lässt sich schließen, man muss aber rechtzeitig daran denken, das zu tun“. Hinzu kommen gewaltige logistische Herausforderungen, insbesondere bei den Boten-RNA-Impfstoffen. Zwar bleiben diese maximal zwei bis drei Tage lang in einem normalen Kühlschrank stabil, müssen ansonsten aber in Kühlketten von minus 70 Grad verteilt werden. Zehn Milliarden Impfdosen zu verteilen, erfordert rund 15.000 Flüge und 200.000 Palettenlieferungen. Und selbst wenn es beispielsweise in Deutschland gelänge, eine Million Menschen pro Woche zu impfen, dann dauerte das für alle 80 Millionen Einwohner mehr als anderthalb Jahre. „Es ist also nicht nur der Impfstoff selbst, den wir im Hinterkopf haben sollten, bevor wir uns gemütlich zurücklehnen.“

 

Plädoyer für eine höhere Impfbereitschaft

In der vom Präsidenten des House of Pharma & Healthcare, Prof. Manfred Schubert-Zsilavecz, moderierten Diskussion kam auch das Problem der Impfbereitschaft wieder zur Sprache, das Stephan Becker in seinem Vortrag thematisiert hatte. Nur rund 70 Prozent der Deutschen wollen sich Umfragen zufolge impfen lassen, rund 30 Prozent dagegen wahrscheinlich nicht oder auf keinen Fall. Ob das dieselben annähernd 30 Prozent seien, die sagen, ihnen gingen die Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie zu weit, könne man nur vermuten, sagte Becker. „Wir müssen die Menschen noch besser über den Nutzen einer Impfung aufklären.“ Sicherheitsbedenken ob der Schnelligkeit der Entwicklung dürfe man angesichts der großen Zahl von mehr als 80.000 Probanden in den beiden Biontech- und Moderna-Studien durchaus entkräften, ergänzte Jochen Maas. „Eine ganz normale sequentielle Impfstoffentwicklung schlösse auch nicht signifikant mehr Probanden ein.“

 

Die nächste Pandemie kommt bestimmt

Es sei noch zu früh, um zu wissen, welche Unterschiede bezüglich ihrer Wirksamkeit und Verträglichkeit es zwischen den verschiedenen COVID-19-Impfstoffen gebe, die demnächst verfügbar sein werden, sagte Becker. „Welcher Impfstoff sich für welche Bevölkerungsgruppe besonders gut eignet, werden wir erst in der Anwendungsbeobachtung sehen.“ Er sei aber froh, dass beispielsweise der Biontech-Impfstoff auch bei älteren Menschen deutliche Immunantworten hervorrufe – bessere sogar als Grippe-Impfstoffe, ergänzte Jochen Maas.  Einig waren sich Becker und Maas auch darin, dass die gemeinsame Empfehlung der ständigen Impfkommission, des Deutschen Ethikrates und der Leopoldina, wonach zuerst Risikogruppen und dann Personen mit besonders hoher beruflicher Exposition geimpft werden sollten, richtig und wichtig seien.  „Solche Impfpläne werden auch für die Zukunft eine conditio sine qua non sein“, betonte Maas. „SARS-CoV-2 wird nicht das letzte Virus sein, das uns heimsucht.“ Wie effektiv eine sorgfältige Vorbereitung auf eine Pandemie sei, auch hinsichtlich von Schutzausrüstung, zeige das Beispiel von Taiwan, das außerordentlich erfolgreiche Lehren aus dem Auftauchen des ersten SARS-Virus gezogen habe: COVID-19 habe dort unter mehr als 23 Millionen Einwohnern nur acht Menschenleben gefordert.

 

Placebo-Studien ethisch noch vertretbar?

Eine „total wichtige Frage“, wie Becker betonte, stellte eine Teilnehmerin am Ende der Diskussion. Wenn es nun nachgewiesen wirksame Covid-19-Impfstoffe gebe, sei es dann ethisch überhaupt noch vertretbar, Probanden in dem Kontrollarm der laufenden Studien weiterhin nur ein Placebo statt einem wirksamen Präparat zu verabreichen? Tatsächlich werde man wohl nicht darum herumkommen, den Probanden anzubieten, die Studie zu entblinden, um ihnen gegebenenfalls einen wirksamen Impfstoff anbieten zu können, auch wenn das für die Studienauswertung natürlich Probleme aufwerfe. Für die klinische Prüfung weiterer Impfstoffe müsse man dann vermutlich ein anderes Studiendesign wählen und nicht Verum mit Placebo, sondern zwei Impfstoffe miteinander vergleichen. Weil man dafür aber viel mehr Probanden einschließen müsste, um statistisch signifikante Ergebnisse zu erzielen, würde das solche Studien extrem teuer machen.

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