Medizinprodukte als Standortfaktor und Wachstumsmotor

Die Braunüle ist nicht nur das bekannteste Medizinprodukt der B. Braun Melsungen AG - sie symbolisiert auch deren Aufstieg von einem mittelständischen Betrieb zu einem global agierenden Konzern. 1962 vom damaligen Leiter der wissenschaftlichen Abteilung und Mitinhaber Dr. Bernd Braun als erste Venenverweilkanüle aus Kunststoff zum Einsatz für Dauerinfusionen erfunden, wird die Braunüle heute in rund 500 Millionen Exemplaren pro Jahr verkauft. Im gleichen Zeitraum kletterte der Umsatz des Melsunger Unternehmens von rund 50 Millionen auf fast sechs Milliarden Euro. B. Braun vertreibt heute weltweit 120.000 unterschiedliche Artikel in 5.000 Medizinproduktfamilien, vom Pflaster über Infusionslösungen und Dialysegeräte bis hin zu High-Tech-Instrumenten für die minimal invasive Chirurgie. 55.000 Mitarbeiter sind dafür in 62 Ländern tätig – ein Erfolg, der freilich täglich neu befestigt werden will und keinen Anlass bietet, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Das verdeutlichte Professor Heinz-Walter Große, der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens, beim dritten Perspektivengespräch des House of Pharma & Healthcare. Denn der Wettbewerb sei hart und die Rahmenbedingungen im Gesundheitssystem hätten sich eher ungünstig entwickelt.

Mit Investitionen Herausforderungen meistern

So stiegen die Gesundheitsausgaben pro Einwohner in Deutschland zwar kontinuierlich an, die Budgets der von der öffentlichen Hand betriebenen Krankenhäuser verharrten jedoch seit etwa zwei Jahrzehnten auf dem gleichen Niveau. Die Folge sei ein Investitionsstau, den auch Medizinproduktehersteller zu spüren bekämen. Deutlich besser sei die Situation immerhin bei den privaten Krankenhäusern, die Gewinnmargen zwischen zehn und 15 Prozent realisierten. Die Einführung der Abrechnung nach diagnosebezogenen Fallgruppen 2003 habe wiederum die Aufenthaltsdauer in Krankenhäusern insgesamt verkürzt, wodurch auch der Markt für Medizinprodukte kleiner geworden sei. Diese Faktoren hätten - neben anderen - zu einem enormen Preisdruck auf die Anbieter von Medizinprodukten beigetragen. So seien zum Beispiel die Preise für Hüftprothesen im Laufe der vergangenen zehn Jahre um 25 Prozent gesunken. Dem stehe ein Anstieg der Lohnkosten während der vergangenen 15 Jahre um fast ein Drittel gegenüber. Hinzu komme, dass die Europäische Union infolge des Skandals um PIP-Brustimplantate derzeit strengere Zulassungsverfahren für Medizinprodukte forciere, um mehr Sicherheit zu gewährleisten. Das sei grundsätzlich begrüßenswert, verlange aber aufwändigere Studien und Nutzenbewertungen und mache es immer schwieriger, Innovation in die Märkte zu bringen.

„Wie verhalten Sie sich also als Produzent, der aus der Mitte Deutschlands aus Melsungen kommt?“, fragte Große, und seine Antwort war ebenso überraschend wie überzeugend: „Sie investieren!“ Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen werden dabei überwiegend in Deutschland getätigt (205 von 270 Millionen Euro im Jahr 2015) und auch wenn man die Investitionen insgesamt betrachtet, spielt Deutschland mit 245 von 675 Millionen Euro nach wie vor die Hauptrolle. An zweiter Stelle steht die Region Asien/Pazifik (161 Millionen Euro). Dort befindet sich in Penang in Malaysia der mit rund 7.000 Mitarbeitern größte Produktionsstandort des Unternehmens. Von den etwa 60 verschiedenen Varianten von Infusionsgeräten, die B. Braun produziert, werden nur einige hochautomatisiert in Melsungen hergestellt, alle anderen per Hand in einer großen Fabrik in Vietnam. Nach wie vor arbeitet aber gut ein Viertel der Belegschaft von B. Braun an deutschen Standorten – und ist dort seit 2010 von 11.000 auf 14.000 Mitarbeiter angewachsen.

Globalisierung stärkt deutsche Standorte

Wie sehr die deutschen Standorte von der Globalisierung profitieren, rechnete Große vor: Der Herstellkostenwert in Deutschland fabrizierter Medizinprodukte beträgt 1,2 Milliarden Euro. Zwei Drittel davon werden exportiert, ein Drittel in Deutschland verkauft. Die Importquote aus ausländischen Produktionsstätten beträgt wiederum 16 Prozent. Der Exportüberschuss beläuft sich also auf rund 50 Prozent netto. „Die Globalisierung ist essentiell für B. Braun, um die Beschäftigung in Deutschland zu halten“, betonte Große. „weil sie bei der Herstellung mancher Medizinprodukte bestimmte Mengenstrukturen brauchen, um überhaupt wettbewerbsfähig zu sein.“ Nahtmaterial zu produzieren und Infusionsgeräte zusammenzubauen ist beispielsweise eine sehr personalintensive Angelegenheit. „Es gibt bei uns viele manuelle Tätigkeiten, die sich nicht so einfach automatisieren lassen.“

Dass B. Braun so viel in seine deutschen Standorte investiere, liege auch an dem hervorragenden deutschen Bildungssystem. „Die duale Ausbildung ist eine Stärke des deutschen Wirtschaftssystems, um das uns alle beneiden. Wir versuchen es auch nach Malaysia und Vietnam zu exportieren.“ Die Zahl der Auszubildenden in Melsungen sei zwischen 2004 und 2014 um 59 Prozent von 495 auf 787 gestiegen. „Wir haben kein wirkliches Facharbeiterproblem“, sagte Große. „Wir bekommen auch Ingenieure und Führungskräfte zu uns nach Nordhessen. Wenn sie erst einmal hier sind, fühlen sie sich wohl.“ Besonders lobend hob Große die engen Beziehungen zur Universität Kassel hervor.

„Als Familienunternehmen gilt für uns zwar die gleiche BWL wie für jedes andere Unternehmen, aber wir müssen nicht alle drei Monate unsere Geschäftszahlen rechtfertigen“, sagte Große. „Wir denken langfristiger und sind weniger mit Excel-Tabellen beschäftigt wie die Kollegen von den Dax-Konzernen.“ Daraus resultiert eine strategische Geradlinigkeit, die sich auszahlt. 1989 überschritt B. Braun zum ersten Mal die Umsatzschwelle von einer Milliarde Euro. „Inzwischen wachsen wir etwa alle drei Geschäftsjahre in einer Größenordnung von einer Milliarde.“