Innovation geht vom Kunden aus - Konzepte der Konsumgüterbranche befruchten Pharmaindustrie

Was haben ein Stabmixer zum Pürieren und ein Stift zur Injektion von Insulin gemeinsam? Beide werden durch Beobachtung ihrer Anwender ständig verbessert. Ihre Anbieter stellen die Bedürfnisse ihrer Kunden von Anfang an in den Mittelpunkt. Das klingt selbstverständlich. Aber dieser aus dem „Design Thinking“ abgeleitete nutzerzentrierte Ansatz der Innovation hat sich bei den Herstellern von Haushaltsgeräten vor etwa 20 Jahren durchgesetzt, bei den Herstellern von Medizingeräten erst mit erheblicher Verzögerung. Denn deren Entwicklungsabteilungen arbeiteten traditionell primär technologiegetrieben. Wie nutzerorientierte Innovation funktioniert und welcher Hilfsmittel sie sich bedient, um bessere Produkte auf den Markt zu bringen, erläuterten der Chefdesigner der DeLonghi Gruppe, Prof. Duy Phong Vu, und der globale Projektleiter für medizinische Kombinationsprodukte der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, Martin Vitt, in einem Perspektivengespräch des House of Pharma & Healthcare – im Dialog miteinander und in lebhaftem Austausch mit dem Publikum.

 Das Denken steht im Vordergrund

Bei dem Begriff „Design Thinking“ gehe es nicht primär um schönes Design, sagte Prof. Vu, zu dessen Verantwortungsbereich auch die Haushaltsgerätesparte der für ihr Design berühmten Firma Braun gehört. Die Betonung liege vielmehr auf dem Denken, dem differenzierten Nachdenken darüber nämlich, welche Probleme Verbraucher im Alltag haben und wie man ihnen helfen kann, diese zu lösen. Das veranschaulichte Vu am Beispiel des Stabmixers, den Braun seit über 50 Jahren im Portfolio hat. Der Wettbewerb auf dem Markt dieser vielseitigen Helfer bei der Essenszubereitung sei hart. „Die Geräte der Konkurrenz haben jetzt 1000-Watt-Motoren, die sind besser als unsere“, habe die Marketing-Abteilung vor einigen Jahren zu ihm gesagt. „Wir brauchen einen neuen Hero!“ Einfach nur im Wettrennen um Wattzahlen mitzumachen, sei seine Sache aber nicht, sagte Vu, das führe in eine sinnlose Endlosspirale ohne Mehrwert. Stattdessen habe man nach „etwas Neuem gesucht, womit wir unseren Kunden wirklich helfen und worüber wir eine Geschichte erzählen können“.

 Spione in der Kundenküche

Zu diesem Zweck beobachteten Teams von Braun Kunden beim Kochen und protokollierten deren Verhalten. Die Teams setzten sich aus Vertretern von Design, Entwicklung und Marketing zusammen. „Design Thinking“ funktioniert nämlich definitionsgemäß nur aus der integrierten Perspektive verschiedener Disziplinen.  Hinzu kommt eine weitere Arbeitsteilung: „Einer fragt, einer schaut, einer nimmt auf, weil die Kundinnen nicht immer das machen, was sie sagen“. Solche Küchenexplorationen dauerten bis zu drei Stunden – und sie mündeten in einem simpel erscheinenden Ergebnis: Das Hauptproblem der Probandinnen ist, möglichst schnell qualitativ gutes Essen zu kochen. Um schneller zu sein, verwendeten sie den Stabmixer zeitweise wie einen Stampfer. Es würde ihnen also helfen, einen Stabmixer zu haben, dessen Messer sich nicht nur in einer Ebene dreht, sondern auch auf- und ab bewegt. Diese technisch nicht triviale Aufgabe löste die Entwicklungsabteilung von Braun, die Designer sorgten für eine unmittelbar eingängige Visualisierung der innovativen Messerbewegung und die Marketingleute formulierten ein Branding, das den Mehrwert dieser „neuen Evolutionsstufe des Stabmixers“ mit „ActiveBlade Technologie“ bewarb, die seit nunmehr zwei Jahren erfolgreich auf dem Markt ist.

 Ideen brauchen Zeit zum Reifen

Inspiriert von solchen „Customer Journeys“, die in der Haushaltsgerätebranche unternommen werden, um Kundenprobleme zu erkennen, macht sich Martin Vitt – über herkömmliche Nutzerbefragungen hinaus – mit seinem Team schon seit einiger Zeit  regelmäßig zu „Patient Journeys“ auf, um die Alltagserfahrungen von insulinpflichtigen Diabetikern zu erkunden und davon ausgehend Injektionsstifte (Pens) zu entwickeln, die deren Bedürfnissen möglichst optimal entsprechen. So ist zum Beispiel ein Pen entstanden, der auch für Diabetiker mit rheumatoider Arthritis gut zu handhaben ist. Aber nicht nur in der Indikation Diabetes ist Vitt auf Patientenreisen. Ganz generell interessiert ihn: „Welche Wege gehen Patienten zur Diagnose, zum ersten Medikament und zur erfolgreichen Therapie? Wie können wir in der pharmazeutischen Industrie unsere Produkte verbessern, indem wir diese Wege von vorneherein nachvollziehen?“ Einerseits sei es wichtig, sagte Vitt, solche Fragen innerhalb der eigenen Organisation zu beantworten und nicht nur externe Berater damit zu beauftragen. Andererseits, ergänzte Vu, müsse man dem „Design Thinking“ Zeit lassen und dürfe nicht übereilt in den Umsetzungsmodus gehen. Um zu verhindern, „dass gute Ideen sofort von der Konzeptkette der eigenen Entwicklung gefiltert werden“, hätten Unternehmen wie beispielsweise BMW oder Lufthansa ihre Design-Thinking-Abteilungen deshalb in Innovation Hubs ausgegliedert.

 Von der Problemlösung zum Wohlbefinden

Von großem Interesse für die Hersteller von Arzneimitteln und Medizinprodukten ist auch ein neuer Trend in der Konsumgüterindustrie, bei dem es weniger darum geht, ein Problem der Kunden zu lösen wie beim „Design thinking“ als vielmehr darum, ihr persönliches Wohlbefinden zu steigern. „Design for Wellbeing“ heißt dieser Ansatz. Unser Wohlbefinden werde, so Prof. Vu, zur Hälfte von unserer genetischen Ausstattung, zu zehn Prozent von unseren Lebensbedingungen und zu 40 Prozent von unseren Aktivitäten bestimmt. Bei diesen Aktivitäten komme es wiederum auf drei Aspekte an, nämlich auf das Material (z.B. das Fahrrad), die Fähigkeiten (z.B. Fahrrad fahren zu können) und die subjektive Bedeutung der Aktivität, inwiefern sie also stimuliere, körperlich trainiere, soziale Kontakte schaffe, zu Ansehen verhelfe, Kompetenz demonstriere, Sicherheit vermittle und Autonomie ausdrücke. Entschlüssele man, welche dieser sieben Bedeutungsaspekte eine bestimmte Aktivität prägten und in welcher Wechselwirkung diese mit deren Material und den dafür erforderlichen Fähigkeiten stünden, dann könne man Produkte oder Dienstleistungen entwickeln, die das Wohlbefinden steigerten. Erprobt hat Vu dieses Konzept in einem Projektkonsortium im Rahmen des Leitmarktwettbewerbes createmedia.NRW am Beispiel von Kaffeemaschinen. Es gebe 19 unterschiedliche Praktiken der Kaffeezubereitung und entsprechend viele Formen des individuellen Wohlbefindens durch diese Aktivität. Eine prototypisch am Wohlbefinden einer speziellen Nutzergruppe (nämlich Kaffee-Experten) ausgerichtete Kaffeemaschine präsentierte er in einem eindrücklichen Werbefilm.

 Einsparpotenzial für die Krankenkassen

Die Prinzipien des „Design for Wellbeing“, sagte Martin Vitt, ließen sich durchaus auf die Entwicklung von Produkten der Pharmaindustrie übertragen. Patienten, die unter Fettleibigkeit litten, beispielsweise, säßen oft den ganzen Tag zuhause und trauten sich nicht vor die Haustür. „Für einen langfristigen Therapieerfolg brauchen diese Menschen aber eine positive Resonanz aus ihren sozialen Begegnungen. Sie brauchen positive Aktivitätserlebnisse“. Wenn es durch Wellbeing-Konzepte gelänge, solche Patienten auf konstantem Gewicht zu halten oder gar zum Abnehmen zu bringen, dann sparte man den Krankenkassen damit erhebliche Folgekosten.

Daten sind Vertrauenssache

Dennoch werde das problemlösungsorientierte „Design Thinking“ die vorherrschende Methode der Produkt- und Serviceentwicklung bleiben, betonte Prof. Vu. Wie aber stelle er sicher, wurde gefragt, dass seine „Customer Journeys“ ihn zu den richtigen Kunden führten und repräsentativ seien? „Wir haben heute nicht nur allgemeine Zielgruppen, sondern genaue Personenprofile“, antwortete er. „Die Konsumentensegmentierung ist so perfektioniert worden, dass wir genau sehen, welche Profilgruppen in welchem Land was brauchen. Das lernen wir auch aus den Daten, die wir bei Google, Alibaba und anderen einkaufen.“ Für die Pharmaindustrie dagegen, sagte Martin Witt, sei es ungleich schwieriger, ihre Kunden zu kennen. „Die Patienten fragen auf der einen Seite nach digitalisierten Produkten zum Selbstmanagement, andererseits wollen sie, wie unsere Verbraucherforschung klar zeigt, ihre Daten nicht preisgeben, weil sie der Pharmaindustrie nicht vertrauen.“