Ärztliches Handeln zwischen Ethik und Recht

Perspektivengespräch über Triage mit Tübinger Moraltheologen und dem Direktor des Frankfurter Universitätsklinikums

Ethisches Handeln lässt sich aus dem Gewissen allein nicht hinreichend begründen. Es bedarf vielmehr einer sorgfältig differenzierenden Reflexion. Das gilt insbesondere für die Medizin, deren Akteure häufiger als andere über Leben oder Tod zu entscheiden haben, erst recht dann, „wenn es durch bestimmte äußere Einflüsse in kurzer Zeit außerhalb der alltäglichen Routinen zu einem Massenanfall an Behandlungsbedürftigen kommt, der die Behandlungskapazitäten vor Ort übersteigt, so dass unter großem Zeitdruck in Blick auf den Transport, die Erstversorgung und die Weiterbehandlung der Betroffenen eine Priorisierung vorgenommen werden muss“. So definierte Prof. Franz-Josef Bormann die Situation der Triage, wie sie im Zuge der Corona-Pandemie schon in einigen Ländern notwendig geworden und auch hierzulande nach wie vor zu befürchten ist. Der Tübinger Moraltheologe entwickelte in zehn Thesen die medizinethischen Implikationen dieser Situation und diskutierte – moderiert von Prof. Manfred Schubert-Zsilavecz, dem Präsidenten des House of Pharma & Healthcare – anschließend mit Prof. Jürgen Graf, dem Ärztlichen Direktor des Universitätsklinikums Frankfurt. Dabei vertrat Bormann „eine Position, die sich signifikant von der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates unterscheidet“, dem er selbst angehört.

Spiel mit Emotionen ist nicht hilfreich

Diese Position, deren Erläuterung der größte Teil von Bormanns Vortrag galt, betrifft die Bewertung der ex-post-Triage nach Beginn einer Behandlung. Diese liegt beispielsweise vor, wenn die Beatmung eines Patienten zugunsten eines anderen Behandlungsbedürftigen abgebrochen wird, für den kein Beatmungsplatz mehr vorhanden war, der aber eine deutlich bessere Prognose hat. Im Gegensatz dazu wird in einer ex-ante-Triage vor Beginn einer Behandlung entschieden, welche Patienten überhaupt Zugang zu knappen Beatmungsgeräten oder anderen intensivmedizinischen Ressourcen bekommen sollen. In seiner Ad-hoc-Stellungnahme „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ vom 27. März 2020 hatte der Deutsche Ethikrat die ex-ante-Triage als „normativ weniger problematisch“ bezeichnet, wenn sie „nach wohlüberlegten, begründeten, transparenten und möglichst einheitlich angewandten Kriterien“ erfolgt. Diese Kriterien entfaltete Bormann in seinen Thesen 2 bis 5. Hinsichtlich der ex-post-Triage hatte der Ethikrat dagegen deren prinzipielle Rechtswidrigkeit festgestellt, weil bei ihr eine „im Ergebnis tödliche Handlung“ vorgenommen werde. Bestenfalls könnten die so handelnden Ärzte mit einer „entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung“ rechnen. Dergestalt zu sagen, dass „man als Arzt auf einen gnädigen Richter vertrauen“ hoffen dürfe, sei „ein Spiel mit den Emotionen, das wenig hilfreich ist“, sagte Bormann. Leider sei aber die Ad-hoc-Stellungnahme damals unter extremem Zeitdruck von einem nur kleinen Redaktionskreis des 24-köpfigen Gremiums verfasst worden, der seine Einwände nicht berücksichtigt habe.

Drei Gründe für die Legitimität einer Verlaufstriage

Die relativ verbreitete Überzeugung von der Legitimität einer initialen ex-ante-Triage bei gleichzeitiger Annahme einer prinzipiellen Unzulässigkeit einer späteren ex-post-Triage sei seiner Ansicht nach aus drei Gründen nicht zu rechtfertigen, sagte Bormann:

  • Die Indikation für eine Beatmung wird ex ante zu einem bestimmten Zeitpunkt und für ein bestimmtes Zeitfenster gestellt. Naturgemäß kann sich der Gesundheitszustand eines Patienten aber in einer Weise verändern, die dazu führt, dass die initiale Einschätzung revidiert werden muss. Zudem können sich die Umstände ändern, „wenn neue Patienten auftreten, die das Verteilungsproblem verschärfen“.
  • Später eintreffende Patienten haben grundsätzlich das gleiche Recht auf eine chancengerechte Teilhabe an den medizinischen Ressourcen wie die früher eingetroffenen und bereits versorgten Patienten. „Der rein zufällige Zeitpunkt des Erstkontaktes mit dem medizinischen Personal ist kein valides Kriterium für eine ethisch angemessene und effiziente Verteilung von Ressourcen.“
  • Das Wissen über den Gesundheitszustand und die Prognose eines Patienten ist vor Beginn einer Behandlung meist geringer als in deren späterem Verlauf. Die Annahme einer Asymmetrie zwischen ex-ante- und ex-post-Triage ist also „auch in epistemischer Hinsicht fragwürdig, da die erkenntnismäßigen Voraussetzungen für die initiale Sichtung in der Regel viel schlechter sind als für deren Überprüfung zu einem späteren Zeitpunkt“.

Zwei ernstzunehmende Einwände

Dennoch ließen sich, so Bormann, zwei Argumente gegen eine Ex-post-Triage anführen, die ernst zu nehmen, aber zu entkräften seien:

  • Durch die ex-ante-Entscheidung für eine Behandlung geht der Behandler eine persönliche Beziehung zum betroffenen Patienten ein, die auch rechtlich eine Garantenstellung begründet, die er nicht aufkündigen darf, wenn ein neuer Patient erscheint, ohne seine eigene Vertrauenswürdigkeit zu untergraben und gegen den Behandlungsvertrag zu verstoßen. Andererseits trüge kein Behandler nur „punktförmig“ Verantwortung für einen, sondern vielmehr kollektiv für alle ihm anvertrauten Patienten, deren Chancengleichheit er zu wahren hätte.
  • Eine ex-post-Entscheidung gegen eine weitere Behandlung kann zeitnah zum Tod des betroffenen Patienten führen und seine Behandler damit einem erheblichen psychologischen Druck ausführen, weil das auf den ersten Blick wie eine strafbare Tötungshandlung erscheint, „die mit dem ärztlichen Ethos schlechterdings unvereinbar ist“.

Dem rettbaren Leben den Vorzug geben

Hinter diesem zweiten Einwand stünde die „Annahme es sei zwar erlaubt, die knappe Ressource dem einen Patienten initial durch aktives Tun zuzuweisen und andere behandlungsbedürftige Patienten in der Konsequenz durch Unterlassen entsprechender Rettungsaktivitäten sterben zu lassen, doch sei es unzulässig, diese Ressource einem Patienten durch eigenes aktives Tun nachträglich wieder zu entziehen und ihn dadurch zu töten“. Diese Annahme verkenne jedoch, dass eine Tötung nur dann vorläge, wenn das Tun oder Unterlassen des Akteurs „die einzige hinreichende Bedingung für den Eintritt des Todes gewesen ist“. Diese „kausalitätstheoretische Bedingung“ sei aber weder in der ex-ante- noch in der ex-post-Triage-Situation erfüllt. „Denn diese Patienten versterben letztlich an ihrer Krankheit. Das medizinische Personal ließ sie sterben, hat sie aber nicht getötet.“ Das zu verhindern, übersteige die Handlungsmacht des medizinischen Personals, das unter Bedingungen des Ressourcenmangels lediglich den drohenden Schaden minimieren könne. „Die Ärzte folgen hier schlicht der traditionellen Regel, dass das rettbare Leben den Vorzug vor dem wahrscheinlich nicht rettbaren Leben verdient.“

Internationale Fachgesellschaften sind gefordert

Wo also bei einer Triage gleich welcher Art die Kriterien der Dringlichkeit, der Erfolgsaussichten und eventuell der funktionalen Bedeutung eines Patienten transparent angewandt würden, sei seiner Auffassung nach „aus ethischer Perspektive alles in Ordnung“, sagte Bormann, so dass es auch auf „keinen Fall zu strafrechtlichen Maßnahmen kommen“ sollte. Auch könne er in einer solchen Triagierung keinen Verstoß gegen die Menschenwürde sehen. Die Beantwortung weiterer verfassungsrechtlicher Fragen falle nicht in den Bereich der Ethik. Gefordert sind nach Ansicht von Bormann derzeit „an erster Stelle die einschlägigen medizinischen Fachgesellschaften, die möglichst auf internationaler Ebene einen Konsens über bestimmte Eckpunkte der Priorisierung herbeiführen sollten, der dann auch nationenübergreifend beachtet wird und damit der zunehmenden kulturellen Heterogenität des medizinischen Personals wie auch der Patienten entsprechen könnte“.

Priorisierung auch bei Influenzaepidemien

Solche nationenübergreifenden Maßstäbe halte er für ganz wesentlich, sagte Prof. Jürgen Graf im anschließenden Gespräch mit Franz-Josef Bormann. „Bei uns im Haus sind Mitarbeitende aus 100 Nationen beschäftigt. Da gibt es kulturelle Unterschiede im Umgang mit Leben, Sterben und Tod, die wir integrieren müssen, wenn wir zusammenarbeiten. Davon sind wir aber leider Gottes noch sehr weit entfernt.“ Er sei dankbar für und angewiesen auf medizinethische Beratung, ergänzte Graf, jedoch sei „die Operationalisierung dessen, was Gremien wie der Ethikrat oder Persönlichkeiten wie Herr Bormann auf hohem Niveau formulieren“ im medizinischen Alltag eine anspruchsvolle Aufgabe. Er habe allerdings das Gefühl, das innerhalb der Ärzteschaft seit dem Frühjahr – ausgelöst durch die Macht der damaligen Bilder aus Italien – deutlich intensiver über Fragestellungen von Priorisierung und Triage diskutiert werde als es noch bei einem Thema wie zum Beispiel der Organspende, das ja ähnliche Felder berühre, der Fall gewesen sei. Im Grunde genommen seien Triagesituationen in der Intensivmedizin aber nichts Neues, sagte Graf und erinnerte an die schweren Influenzaepidemien jüngst vergangener Jahre. „Da hatten wir auch Situationen, wo die Intensivstationen sehr stark ausgelastet waren und nicht genügend technische Geräte zur extrakorporalen Versorgung von Patienten mit Sauerstoff – sogenannte ECMOs – vorhanden waren, so dass wir Priorisierungsentscheidungen treffen mussten.“

Ethikkomitee wird in Entscheidung einbezogen

In solchen Situationen, so Graf, könne sich beispielsweise die Frage stellen: „Benutze ich die ECMO bei dieser 77-jährigen Patientin mit Diabetes mellitus und einer Herzinsuffizienz oder warte ich, ob nicht morgen vielleicht die 33-jährige Mutter zweier kleiner Kinder kommt, die das auch brauchen könnte.“ Wie würde denn die Entscheidung in einem deutschen Universitätsklinikum aussehen, fragte Schubert-Zsilavecz: „Wird die 77-jährige von der Maschine abgehängt, wenn eine junge Mutter kommt?“ Eine solche Entscheidung könne er sich nicht vorstellen, entgegnete Graf, „jedenfalls nicht, wenn die 77-jährige eine Prognose hat und ihr Leben durch diese Behandlung mit einer vernünftigen Lebensqualität zu retten ist“. Wie lange er abwarten würde, um zu schauen, ob der gewünschte Behandlungserfolg einträte, wollte Bormann wissen. „Wenn sie sehen, dass ihre Hoffnung sich nicht bewahrheitet, dann läge es doch nicht so fern, die Maschine einem Patienten zuzuwenden, der eine höhere Genesungswahrscheinlichkeit hat?“ Wenn nach einer gewissen Zeit das Therapieziel für die Patientin verändert und von lebenserhaltenden auf palliative Maßnahmen umgestellt werden müsse, dann beende man selbstverständlich auch die ECMO-Therapie. „Diese Entscheidung ist aber entkoppelt davon, ob jemand anderes dieses Gerät braucht.“ Generell würden solche Entscheidungen am Frankfurter Universitätsklinikum nie von einem Mediziner alleine getroffen, sondern unter Einbeziehung des klinischen Ethikkomitees.

Angespannte Situation bis Ostern zu erwarten

Franz-Josef Bormann hatte schon in seinem Vortrag darauf hingewiesen, dass die Pandemie faktisch eine „graue oder versteckte Triage“ begünstige, die dadurch entstehe, dass eigentlich notwendige Operationen, etwa im Bereich der Onkologie, verschoben würden, um Betten für Covid-19-Patienten freizuhalten. Auch habe die Pandemie dazu geführt, dass chronisch kranke Menschen aus Pflegeheimen nicht ins Krankenhaus überwiesen worden seien, obwohl sie es nötig gehabt hätten. Leider sei dieses Phänomen „nicht so sehr Gegenstand der medialen Ausleuchtung“. Dieses Problem bestätigte Graf, der als Leiter des Corona-Planungsstabes des Landes Hessen dafür zu sorgen hat, dass die stationäre Versorgung sowohl von Covid- als auch von Nicht-Covid-Patienten sichergestellt wird. Es verschärfe sich derzeit sogar noch. Während der ersten Coronawelle sei versucht worden, alle nicht dringend notwendigen Eingriffe um mindestens sechs Wochen zu verschieben. Die zweite Welle lasse nun aber erwarten, dass die Auslastung der stationären Kapazitäten bis Ostern andauern könne, „und wir mit einem deutlichen Anstieg an Neuinfektionen durch Rückkehrer aus den Weihnachtsferien rechnen müssen“. Dieses Zeitintervall sei „mit Sicherheit zu lang, als dass wir auf gewisse elektive Maßnahmen verzichten könnten. Der Schlaganfall, der Herzinfarkt, das penetrierende Karzinom müssen versorgt werden. Darauf sind wir in Deutschland mäßig gut vorbereitet“.

„Wir müssen das Verteilen von Mangel lernen“

Das sei in Ländern anders, deren Gesundheitssysteme über deutlich weniger Ressourcen verfügten als unseres und schon lange gelernt hätten, damit umzugehen, wie beispielsweise Großbritannien. Weil die Kolleginnen und Kollegen dort sich in ihrem Alltag viel häufiger als hierzulande mit Mangelsituationen strukturiert auseinanderzusetzen hätten, verfügten sie „über ein viel intensiveres Verständnis“ der damit zusammenhängenden ethischen Grundsatzfragen, sagte Graf. „Für uns ist das Verteilen von Mangel dagegen sehr ungewohnt, deshalb haben wir jetzt in der Pandemie eine große Schwierigkeit, damit umzugehen.“ In Deutschland gebe es, ergänzte Bormann, „bisher kein politisches Klima offen über diese Probleme strukturellen Mangels, den es natürlich auch in reichen Ländern gibt, zu diskutieren, und zu entscheiden, welche Strategie wir fahren wollen“. Das führe dazu, dass der Entscheidungsdruck „auf der untersten Ebene abgeladen und die Chance vertan wird, die Dinge auf einer übergeordneten Ebene zu sanieren“. Auch in Deutschland müsse jedem klar sein, „dass angesichts des immer weiteren Auseinandergehens des grundsätzlich Möglichen und des Bezahlbaren diese Spannung tendenziell immer größer wird“. Die Botschaft des Gesundheitssystems könne auf Dauer nicht sein: „Jeder kriegt unter allen Bedingungen alles“. Vielmehr müssten wir uns generell der Frage stellen, „mittels welcher Kriterien wir systembedingte Priorisierungen vornehmen wollen“.