Maßgeschneiderte Erstattung für maßgeschneiderte Therapien

 

Die Jahrestagung des House of Pharma thematisierte Kostenintelligenz im Gesundheitssystem

Brauchen wir Kostenintelligenz, um die Herausforderungen zu meistern, die sich dem Gesundheitswesen angesichts einer alternden Gesellschaft und immer teurerer Therapien stellen? Auch wenn die Wissenschaft diesen Begriff nicht kenne, sagte Professor Michael  Schlander, Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, impliziere er doch einen sinnvollen doppelten Imperativ: Gesundheitskosten müssen ganzheitlich betrachtet und in Beziehung zu ihrem Nutzen gesetzt werden. Mit  intelligenten Maßnahmen Mehrausgaben langfristig in den Griff zu bekommen, erfordere zunächst Investitionen „in sektorübergreifende Versorgung, in Digitalisierung und in Prävention", gab Kai Swoboda, stv. Vorstandsvorsitzender der IKK Classic, zu bedenken. Kostenintelligenz heiße auch, genügend Geld in die Forschung zu investieren, um „die nächste Generation von Therapien zu entwickeln", sagte Dr. Stefan Simianer, Geschäftsführer Forschung und Entwicklung von AbbVie Deutschland. Für sie bedeute der Begriff, „dass wir aufhören, One-fits-all-Lösungen voranzutreiben und anfangen, maßgeschneiderte Therapien auch maßgeschneidert zu erstatten", betonte Dr. Dorothee Brakmann, Mitglied der Geschäftsleitung von Janssen Deutschland. Ausgehend von dieser Äußerung, fokussierte sich die Podiumsdiskussion zum Thema Kostenintelligenz auf das Potential der personalisierten Medizin. Werde sich diese eher als Kostentreiber oder als Kostensenker erweisen? fragte Moderatorin Claudia Wüstenhagen.

 

Pay-For-Performance als praktikable Lösung?

„Wenn die individualisierte Medizin ihr Nutzen versprechen einlösen kann, Patienten nicht mit einer Therapie zu behandeln, die für sie unwirksam oder unverträglich ist, wird sie zweifelsohne eine Effizienzsteigerung herbeiführen", sagte Michael Schlander. Das gelte im positiven Fall umso mehr, ergänzte Dorothee Brakman, wenn die Behandlung möglichst frühzeitig einsetze und den Ausbruch einer Krankheit eventuell ganz verhindere. „Dafür bedarf es neuer Erstattungsmodelle." Dazu zählen auch Pay-for-Performance-Lösungen, bei denen der Kostenträger nur dann für eine Behandlung einsteht, wenn der Patient davon profitiert. So hat beispielsweise Novartis für seine CAR-T-Gentherapie Kymriah® in den USA Abkommen ausgehandelt,wonach die Behandlungskosten von 475.000 US-Dollar für einen Patienten nur dann fällig werden, wenn dieser mindestens einen Monat lang auf die Therapie anspricht. „Als Gesundheitsökonom kann ich damit nicht zufrieden sein", wandte Michael Schlander ein. Zu groß sei die Diskrepanz zwischen einem Monitoring-Zeitraum von nur einem Monat und dem Versprechen, mit dieser Therapie eine Krebserkrankung zu heilen.

 

"Die Gesamtrelation nicht aus den Augen verlieren"

Würden Pay-per-Performance-Modelle auch in Deutschland eingeführt, wäre für die Krankenkassen damit ein hoher Aufwand verbunden, um den Therapieerfolg jedes Patienten zu überwachen. Dennoch sei es „grundsätzlich zu begrüßen, die Medizin zu individualisieren und leistungsabhängiger zu bezahlen", unterstrich Kai Swoboda. Wie seine Erfahrungen im Krankenhaussektor zeigten, sei es aber kaum möglich, verbindliche Erfolgskriterien für leistungsabhängige Vergütungen festzulegen. Selbst wenn es einfacher sei, die Performance eines Arzneimittels zu beurteilen, als die eines ganzen Krankenhauses, erschienen solche Modelle den Kassen nur dann praktikabel, wenn dafür „schlanke Prozesse" aufgestellt würden. „Sie dürfen nicht zu einer stärkeren Bürokratisierung des gesamten Systems führen." Auch müssten Therapien, die 400.000 Euro und mehr kosten, die Ausnahme bleiben. Denn schon mittelfristig hätte die Finanzkraft der Krankenkassen erheblich unter den Folgen des demographischen Wandels zu leiden. „Wir werden 2030 einige Millionen Beitragszahler weniger und einige Millionen Leistungsempfänger im Rentenalter mehr haben als heute." Was wisse man denn überhaupt über die langfristige Wirkung derneuen Krebsmedikamente, fragte Claudia Wüstenhagen, worauf Michael Schlander den Text einer Karikatur zitierte: „Dieses Medikament wird sie ewig leben lassen, es wird aber auch ewig dauern, bis wir das beweisen können." Generell stünde die Gesundheitsökonomie also immer vor dem Problem, „Entscheidungen über die Preisfindung und Kostenerstattung eines Arzneimittels zu einem Zeitpunkt treffen zu müssen, an dem wir erst unvollständige Informationen überdessen langfristige Wirkung haben." So könne etwa die Hälfte aller von der Europäischen Arzneimittelagentur EMA zugelassenen Krebsmedikamente zum Zeitpunkt der Zulassung keine Daten zur Verbesserung der Lebensqualität der behandelten Patienten aufweisen. Dennoch dürfe man die Gesamtrelation nicht aus den Augen verlieren, wenn man sich über manche teuren Therapien aufrege. Ziehe man nämlich neben den Arzneimittelausgaben als Teil der direkten Kosten von Krankheiten deren indirekte Kosten (z.B. durch volkswirtschaftliche Produktivitätsausfälle) und intangible Kosten (z.B. durch Beeinträchtigung der Lebensqualität) ins Kalkül, dann seien onkologische Erkrankungen für 19 Prozent der Krankheitslast der deutschen Bevölkerung verantwortlich. „Wir geben in unserem Gesundheitssystem derzeit aber nur sechs bis sieben Prozent aller Gelder für Krebsprävention und -therapien aus."

Teure Therapien könnten sich sogar als sehr kostenintelligent erweisen, sagte Dorothee Brakmann, wenn sie den Krankenkassen die enorm hohen Folgekosten chronischer Krankheiten ersparten, wie das Beispiel der Behandlung der Hepatitis C mit Sofosbuvir zeige. Diesbezüglich stünden die Kostenträger möglicherweise vor einem Paradigmenwechsel, der sie zwinge, „nicht mehr in Jahreszyklen, sondern viel langfristiger zu denken“. Das sei schwierig, „weil initial hohe Kosten sie stärker in die Bredouille bringen als tröpfchenweise Ausgaben über lange Zeit." In diesem Zusammenhang fragte Stephan Simianer, was es für das Gesundheitssystem bedeuten würde, wenn es gelänge, Medikamente zu entwickeln, die den Ausbruch dementieller Erkrankungen verhinderten und damit eine enorme Last von Millionen potentieller Patienten und ihrem Umfeld genommen würde. „Dann stünden wir vor einer ganz großen Herausforderung, der wir derzeit noch nicht gewachsen sind, wie nämlich sollen wir das vergüten?"

 

Deutschland hat zu viele Krankenhäuser

Wer über Kostenintelligenz im Gesundheitswesen spricht, sollte sich dabei nicht auf Arzneimittel beschränken. „Wenn sich die Versorgungsstrukturen in den Krankenhäusern nicht ändern, dann ist alles andere nur Flickschusterei", betonte Kai Swoboda. Viele deutsche Krankenhäuser stünden vor dem Problem, dass die Bundesländer ihren Pflichten zur Finanzierung von deren Investitionskosten nicht vollumfänglich nachkämen. So zweckentfremdeten sie jedes Jahr „in einem hohen dreistelligen Millionenbereich" Gelder, die ihnen die Krankenkassen für Betriebsausgaben überweisen, um Apparate und Neubauten zu finanzieren. „Wir begrüßen alle die Initiative des Bundesgesundheitsministers zur Stärkung der Pflege", sagte Swoboda, „weisen aber darauf hin, dass es in Deutschland rund 200 Krankenhäuser zu viel gibt." Verständlicherweise wollten die Menschen ungern auf ihr örtliches Krankenhaus verzichten. Aber oft seien diese Häuser zu klein,um wirtschaftlich arbeiten zu können. „Wäre es nicht sinnvoll, diese Häuser aufzulösen und ihre Pflegekräfte auf die anderen zu verteilen?" Es fehle leider der politische Mut, die Überversorgung im stationären Bereich zu beenden und die Krankenhäuser effizienter zu gestalten, bekräftigte Michael Schlander. „Es gibt weltweit nur drei Länder, die pro Kopf der Bevölkerung mehr Krankenhausbetten haben als wir. Das sind Japan, Russland und Südkorea. Alle drei sind nicht dafür bekannt, besonders effiziente Systeme zu haben." Moderatorin Claudia Wüstenhagen diskutierte mit Dr. Stefan Simianer, Dr. Dorothee Brakmann, Kai Swoboda und Prof. Dr. Michael Schlander (v.l.n.r.) über Kostenintelligenz im Gesundheitswesen. Initial hohe Ausgaben für effektive Therapien könnten die Krankenkassen langfristig entlasten, wenn sie ihnen hohe Folgekosten chronischer Krankheiten ersparten, meinte Dorothee Brakmann.