Der Europäische HTA-Prozess in der Kontroverse

Industrie und Selbstverwaltung beziehen unterschiedliche Positionen zur einheitlichen klinischen Nutzenbewetzung

Nur wenige europäische Gesetzesinitiativen im Gesundheitsbereich haben in jüngster Zeit so kontroverse Diskussionen hervorgerufen wie die von der Europäischen Kommission im Januar 2018 vorgeschlagene Verordnung zur einheitlichen klinischen Bewertung von Gesundheitstechnologien (Health Technology Assessment – HTA). Insbesondere Deutschland und Frankreich kritisieren eine verpflichtende gemeinsame Nutzenbewertung, da sie den nationalen Nutzenbewertungsprozess gefährdet sehen. Das ist überraschend, denn der europäische HTA-Prozess ist keineswegs neu, sondern wurde bereits vor über zwölf Jahren mit der Gründung des Europäischen Netzwerks für Health Technology Assessment (EUnetHTA) in Leben gerufen. Grund genug für den Bundesverband der Arzneimittelhersteller e.V. (BAH) einen Workshop anzubieten, den BAH-Hauptgeschäftsführer Dr. Martin moderierte, um die unterschiedlichen Positionen auszuloten.

Klarer Nachbesserungsbedarf der Verordnung

Zunächst führte die Europaabgeordnete Gesine Meißner (FDP) mit einem Impulsreferat in die Thematik ein. Sie berichtete über die Diskussionen im Gesundheitsausschuss des Europäischen Parlaments, der zu erheblichen inhaltlichen Anpassungen des Verordnungsentwurfes geführt hat. Meißner äußerte sich konkret zu den erzielten Kompromissen, die in den letzten Monaten ausgehandelt worden waren: „Die Änderungsanträge zum Entwurf betrafen insbesondere die Einbeziehung von Medizinprodukten in den Verordnungsentwurf, die fehlende Konkretisierung der Methodologie, die zeitlichen Aspekte der HTA-Bewertung sowie die Mehrheitsverhältnisse bei Abstimmungen. Darüber hinaus hat der Ausschuss wichtige Klarstellungen im Hinblick auf die Rechte der Mitgliedstaaten vorgenommen.“ Demnach sollen Experten aus den Mitgliedstaaten gemeinsam bewerten, ob und welchen Zusatznutzen ein Medikament im Vergleich zur Standardtherapie hat. Diese Bewertung soll dann als Grundlage für die Erstattungsentscheidung dienen, die von den Mitgliedstaaten getroffen wird. 

In der Diskussion wurden die divergierenden Positionen der Industrie – vertreten durch Dr. Marco Penske (Boehringer Ingelheim) und Dr. Charalabos-Markos Dintsios (Bayer Vital) – und der Selbstverwaltung der Gesundheitsversorgung – vertreten durch Dr. Alric Rüther (IQWIG) und Evert-Jan van Lente (AOK Bundesverband) – deutlich. Während die Industrievertreter die geplante zentrale Nutzenbewertung als zielführend bezeichneten, wurde von Seiten der Selbstverwaltung kritisiert, dass die Entwicklungen im HTA-Prozess zu schnell verliefen. Den Anforderungen der einzelnen Länder werde dadurch nicht ausreichend nachgekommen. „Insbesondere lehnen wir das im Kommissionsvorschlag enthaltene generelle Verbot ab, auf nationaler Ebene ergänzende HTA-Bewertungen vorzunehmen“, sagte van Lente.

Aus Sicht der Industrievertreter ließe sich hingegen die aktuelle Gesetzesinitiative der EU-Kommission in Deutschland mit wenig Aufwand mit dem AMNOG-Verfahren in Einklang bringen. „Sie bietet außerdem Chancen zur Qualitätsverbesserung und zum Abbau unnötiger Doppelstrukturen in der EU“, so Dintsios. Einig waren die Diskutanten sich immerhin darin, dass stabile Rahmenbedingungen essentiell für die Industrie und die Selbstverwaltung seien. Man erwarte daher, dass konkrete methodische und verfahrenstechnische Vorgaben festgelegt werden, um eine verlässliche, transparente und rechtssichere Durchführung zu gewährleisten. Letztlich bietet eine einheitliche europäische Nutzenbewertung auch aus Sicht des BAH eine wichtige Grundlage für eine dauerhafte, nachhaltige EU-weite Zusammenarbeit im Arzneimittelbereich und die Chance, sich geeint als globaler Akteur gegenüber anderen Ländern außerhalb Europas zu positionieren.