Digitale Assistenten als effektive Therapeuten?
Migräne-Patienten profitieren von lernender Software
Wenn es nach dem Willen des Bundesgesundheitsministers geht, werden Patienten sich von ihrem Arzt schon bald auf Kosten ihrer Krankenkasse bestimmte Gesundheits-Apps als digitales Therapeutikum verschreiben lassen können. Dr. Markus Dahlem hat in dem von ihm 2015 mitgegründeten Start-up Newsenselab ein solches Therapeutikum gegen Migräne entwickelt, genauer gesagt: eine Software, die evidenzbasierte, datengetriebene Interventionen zur Behandlung von Migränepatienten ermöglicht. Diese Software ist derzeit in zwei Applikationen erhältlich: Als mitdenkendes Patiententagebuch M-sense Basic und als M-sense Active, das dieses Tagebuch um verhaltens- und physiotherapeutische Angebote ergänzt.
Brainy lernt schnell, was jedem Einzelnen am besten hilft
Migräne ist eine Krankheit, deren Bedeutung unterschätzt wird. Der Leidensdruck, den sie auf die Betroffenen ausübt, ist aber enorm. Bei den unter 50-jährigen ist sie weltweit die häufigste Ursache von Arbeitsunfähigkeit. Die Weltgesundheitsorganisation stuft sie auf Platz acht der größten gesundheitlichen Herausforderungen ein. Dennoch wird nur ein Bruchteil der Migränepatienten medizinisch optimal betreut, nämlich rund 17 Prozent der Patienten mit episodischer und nur 2,9 Prozent der Patienten mit chronischer Migräne. Das liegt vor allem daran, dass mehr als die Hälfte beider Gruppen es versäumt, wegen ihrer Kopfschmerzen überhaupt ärztlichen Rat zu suchen. Aber selbst wer das tut, kann – besonders bei chronischer Migräne – häufig nicht mit einer korrekten Diagnose und/oder Behandlung rechnen. Von denen, die korrekt behandelt werden wiederum halten sich etwa ein Drittel nicht an die empfohlene Therapie, lassen also die notwendige Adhärenz vermissen.
Die App M-sense will diese Hürden, die für Kopfschmerzpatienten vor einer erfolgreichen Migränetherapie stehen, aus dem Weg räumen. Als Vermittler schaltet sie den freundlich-verspielten Chatbot „Brainy“ ein. Dieser fragt die Nutzer der App regelmäßig nach ihrem Befinden und dokumentiert dieses. Er gleicht die Eintragungen, etwa zu Schmerzphasen und Schlafdauer, mit externen Daten ab, zum Beispiel bezüglich des Wetters. Er lässt dem Nutzer Raum für Notizen. Er bietet den Nutzern – in der Active-Version – Lernmodule, Entspannungsübungen, Trainingseinheiten und bei Bedarf auch Akut-Hilfe-Empfehlungen an. Bei all dem erweist sich Brainy als lernfähig. Nach spätestens vier Wochen hat er seinen Nutzer so gut verstanden, dass er diesem eigenständig Vorschläge zur Bekämpfung individueller Migränemuster machen kann.
Ein Drittel weniger Kopfschmerztage dank digitaler Betreuung
Eine „Real-World“-Studie mit 1158 Nutzern, die M-sense Basic mindestens vier Monate lang vollständig genutzt hatten, belegt die Wirksamkeit der App: Die Zahl der Kopfschmerztage ging bei diesen Nutzern um durchschnittlich 33 Prozent von 9 auf 5,9 Tage pro Monat zurück. „Diesen Alltagsbefund wollen wir nun in einer klinischen Studie erhärten, die im September 2018 begonnen hat“, sagte Markus Dahlem. „Bisher haben wir, unter anderem an der Charité, 200 Patienten in diese Studie aufgenommen, insgesamt sollen es 1200 werden.“
Die Möglichkeiten der M-Sense App gingen aber über die Verhaltens- und Therapiesteuerung hinaus, erläuterte Dahlem. Sie könnten auch dazu dienen, vorherzusagen, ob ein Patient auf eine bestimmte Migränemedikation anspreche oder nicht, als digitale Entsprechung einer „companion diagnostic“ sozusagen. Das sei von großem Interesse, seit jüngst mit zwei CGRP-Antikörpern und einem CGRP-Rezeptor-Antikörper die ersten Biologika zur Behandlung der Migräne auf dem Markt gekommen seien. Sie wirkten längst nicht bei jedem Patienten, seien aber viermal so teuer wie die herkömmlichen Migränemedikamente. Weder diagnostisch noch phänotypisch ließen sich Biologika-Responder bisher identifizieren, wahrscheinlich aber durch „digitale Biomarker“, die Brainys künstliche Intelligenz aus den Daten der mit ihm kommunizierenden Patienten destillieren könne.
Zweites Beispiel: Eine Betreuungs-App für Krebspatienten
Einen prinzipiell ähnlichen Ansatz wie den von Newsenselab, allerdings ohne therapeutischen Anspruch, stellte Dr. Gandolf Finke, Gründer des Start-ups Fosanis, vor. Die von ihm entwickelte App Mika richtet sich an Krebspatienten. Sie will diese Menschen und ihre Angehörigen als eine Art digitaler und interaktiver Krebsinformationsdienst unterstützen und betreuen, nicht nur durch verifizierte, verständliche und individuell zugeschnittene medizinische Informationen, sondern auch durch die Vorbereitung auf belastende Ereignisse, wie beispielsweise den Beginn einer Chemotherapie, und durch die Möglichkeit, ihren Krankheitsverlauf zu dokumentieren. „Mikas Angebote orientieren sich an den Sorgen und Problemen, mit denen Krebspatienten sich vor, während und nach ihrer Behandlung auseinandersetzen müssen.“ Mika ist als medizinisches Produkt zertifiziert und von der Deutschen Krebsgesellschaft akkreditiert worden.