Strukturelle Defizite behindern medizinischen Fortschritt

Zu schwache Translationskraft, unzureichende digitale Vernetzung

Das deutsche Gesundheitssystem hat während der Pandemie bewiesen, dass es auch mit großen Herausforderungen gut zurechtkommt. Dennoch krankt es an strukturellen Defiziten, die der medizinischen Innovation abträglich sind. Diese Defizite müssen schnell behoben werden, wenn Deutschland im internationalen Vergleich nicht weiter zurückfallen soll. Darin waren sich die drei Teilnehmer der Podiumsdiskussion über „Rahmenbedingungen für die Entwicklung innovativer Arzneimittel in Deutschland“ bei der 11. Jahrestagung des

House of Pharma & Healthcare (HoPH) einig: Dr. Martina Schüßler-Lenz vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI), Vorsitzende des Ausschusses für neuartige Therapien bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur, Prof. Heyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charité-Universitätsmedizin in Berlin und Prof. Jochen Maas, Geschäftsführer Forschung und Entwicklung von Sanofi-Aventis Deutschland und Vizepräsident des House of Pharma & Healthcare. Zwei Defizite hoben die Teilnehmer besonders hervor: Eine zu geringe Translationskraft und einen mangelhaften Digitalisierungsgrad. 

 

„Erbarmungswürdig schlecht digitalisiert“

Dank der Pandemie habe sich die Digitalisierung zwar beschleunigt, sagte Kroemer, so zum Beispiel in der Interaktion zwischen Ambulanzen, dennoch bleibe das grundsätzliche  Problem bestehen: „Unser Versorgungssystem, aus dem unendlich viele Informationen erwachsen könnten, die relevant sind, ist in einer so erbarmungswürdigen Weise schlecht digitalisiert, dass wir diese Informationen nicht herauskriegen, gerade wenn wir neue Therapien verfolgen.“ Deutschland verfüge eigentlich über alle „Einzelingredienzien“ medizinischer Innovation, betonte Kroemer. Es habe herausragende Forscher, eine im internationalen Vergleich sehr gute Krankenversorgung, eine erfolgreiche pharmazeutische Industrie und weltweit angesehene regulatorische Behörden. „Was aber fundamental nicht funktioniert, ist der Austausch komplexer Informationen zwischen den einzelnen Institutionen, wofür wir ein vernünftiges digitales System bräuchten.“ Überall im Gesundheitssystem gebe es Stellschrauben, an denen man drehen könne, um zu optimieren, aber das seien alles Kleinigkeiten angesichts der fundamentalen Schwäche unzureichender digitaler Vernetzung. Diese Schwäche zu beheben, dulde keinen Aufschub. „Wo haben wir denn die Informationen herbekommen, wie der in Deutschland entwickelte Impfstoff wirkt und vertragen wird?“, fragte Kroemer. „Wir waren froh, dass uns die Israelis diese Informationen netterweise zur Verfügung gestellt haben.“

 

Alle ATMPs seit 2018 stammen aus den USA

Die Digitalisierung spiele sicher eine entscheidende Rolle, sagte Jochen Maas, und es sei beschämend, dass Deutschland kein Impfregister habe, geschweige denn bis heute eine elektronische Gesundheitskarte. „Aber Digitalisierung heilt nicht alles“, bemerkte Maas. „Was wir auch brauchen, ist mehr gegenseitiges Vertrauen zwischen akademischer und industrieller Welt.“ Während beide in Deutschland wie große Blöcke nebeneinanderstünden, seien sie in den USA eng verzahnt. Das bestätigte Martina Schüßler-Lenz, die auf deutscher wie auf europäischer Ebene mit der Zulassung von Arzneimitteln für neuartige Therapien (ATMPs) befasst ist, zu denen beispielsweise Gen- und CAR-T-Zelltherapien gehören. „Die Translation in die erste Phase der klinischen Prüfung geschieht in den USA bereits an den großen akademischen Forschungszentren, wie etwa an der

University of Pennsylvania für CAR-T-Zelltherapien.“ Relativ spät kämen die klinischen Prüfungen dieser Therapien in fortgeschrittenen Phasen nach Europa. „Das PEI ist für die amerikanischen Entwickler dann eine der gesuchtesten Berater.“ So sehe sie in den inzwischen durchschnittlich einmal pro Woche stattfindenden ATMP-Konsultationen zwar viele Projekte von US-Firmen, aber nur sehr wenige Investigator Initiated Trials aus Deutschland. Nur zehn Prozent der weltweiten CAR-T-Studien würden in Europa durchgeführt. Dabei sei Europa doch 2009 der erste Kontinent gewesen, der einen regulatorischen Rahmen für ATMPs geschaffen hat. „Wenn wir die Lage seit 2018 betrachten“, sagte Schüßler-Lenz, „dann haben wir seitdem zwölf Gen- und Zelltherapeutika zugelassen. Sie stammen alle aus den USA.“ Sie wünsche sich eine „höhere Bereitschaft der deutschen Akademia, sich relativ früh mit der regulatorischen Landschaft zu beschäftigen“. Als zukunftsweisendes Exempel erwähnte Jochen Maas in diesem Zusammenhang die gemeinsame Proof-of-Concept-Initiative von Fraunhofer, Helmholtz und der deutschen Universitätsmedizin, die Akademikern die Möglichkeit bietet, ihre Entwicklungsprojekte ohne Industrieunterstützung bis in die Phase II zu bringen.

 

Für eine dauerhafte Befestigung akademisch-industrieller Interaktion

Aus Sicht der von ihm geführten Klinik bekräftige Kroemer die Beobachtungen von Schüssler-Lenz. „Die Charité hat sehr viele Industriekontakte, aber meist handelt es sich um überschaubare Projekte. Man löst gemeinsam ein Problem und geht hinterher wieder auseinander.“ In den USA hingegen gebe es „eine ganze Reihe von strukturellen Interaktionen von Industrie und Akademia, die dauerhaft bestehen und sehr erfolgreich sind“. Daran wolle sich die Charité ein Vorbild nehmen und mit der Firma Bayer ein Zentrum für Gen- und Zelltherapie gründen, „wo wir in eine langfristige Interaktion in einer gemeinsamen Rechtsform gehen werden“. Auch Maas gab sich zuversichtlich, dass Akademia und Industrie sich aufeinander zubewegten und sich der Gegensatz zwischen deren beiden Erfolgswährungen Publikationen und Produkte allmählich auflöse. „Die Industrieforscher wollen die besten akademischen Partner haben, dazu müssen sie publizieren, um in der Scientific Community sichtbar zu sein“, sagte er. „Auf der anderen Seite sind die akademischen Kollegen auch nicht unglücklich, wenn am Ende ein Produkt auf den Markt kommt und Royalties fließen.“ Eventuelle gegenseitige Vorurteile verschwänden ohnehin schnell, wenn man in einer Kooperation in einem Labor zusammenarbeite, so wie das Sanofi und Fraunhofer in einem Projekt erprobt hätten. Kroemer plädierte in diesem Kontext für bidirektionale Innovation. Dabei setzen die Universitäten nicht nur unidirektional gute Ideen in Ausgründungen um, sondern holen umgekehrt auch Start-ups mit medizinisch interessanten Technologien ins eigene Boot. „Das ist eine vielversprechende Entwicklung, die wir an der Charité zu verwirklichen suchen.“

 

Skandinavien als Vorbild im Systemvergleich

Martina Schüßler-Lenz stellte jedoch in Frage, ob Deutschland überhaupt den Ehrgeiz habe, eine Führungsrolle in Sachen medizinischer Innovation einzunehmen. „Wollen wir das überhaupt? Die Erkenntnis, dass die Entwicklung neuartiger Therapien weggeht aus Europa ist ja nicht neu, das haben wir seit 2016 gesehen. Was ist denn in der Zwischenzeit passiert?“ Der Erfolg von BioNTech sei doch eher eine Ausnahme gewesen. Die Spanier seien inzwischen die Nummer eins in klinischen Prüfungen in Europa, die Niederlande hätten durch die Übersiedlung der Europäischen Arzneimittel-Agentur nach Amsterdam Auftrieb bekommen. „Und bei uns wird nicht einmal der einst von der Bundesregierung initiierte Pharmadialog fortgeführt.“ Heyo Kroemer erinnerte freilich daran, dass Innovationskraft und Versorgungssicherheit zwei verschiedene Dinge sind. „Das amerikanische System hat zwar im innovativen Outcome sehr erfreuliche Komponenten, aber eine Versorgung, die nur etwa zwei Drittel der Bevölkerung abdeckt. So etwas wollen wir auf keinen Fall.“ Im Systemvergleich sollte sich Deutschland deshalb nicht an den USA orientieren, sondern an europäischen Ländern, die vieles besser machten. „Skandinavien und die Niederlande sind für mich vorbildlich.“ Sie zeigten zum Beispiel, dass man mit derselben europäischen Datenschutzgrundverordnung die Digitalisierung vorantreiben und der Forschung sämtliche klinische Daten zur Verfügung stellen könne, selbstverständlich auch der privatwirtschaftlichen Forschung.

 

Urheberrecht der Fotos: Andreas Henn

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