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IQVIA-Europachef plädiert für neue Priorität der Pharmaindustrie nach der Pandemie

Die Covid-19-Pandemie ruft weltweit wirtschaftliche und soziale Probleme hervor, die mindestens in den kommenden drei Jahren Druck auf die Gesundheitsbudgets ausüben werden. Sie wird zudem dauerhaft zu gesellschaftlichen Ansprüchen an die pharmazeutische Industrie führen, die diese dazu zwingen, ihre Geschäftsprozesse grundsätzlich zu überdenken. „Fragt nicht, was das Gesundheitssystem für euch tun kann, sondern was ihr für das Gesundheitssystem tun könnt“, 

dieser Imperativ in Abwandlung des berühmten Kennedy-Satzes gelte in Zukunft für jedes Pharmaunternehmen, das langfristig Erfolg haben wolle, sagte Dr. Frank Wartenberg, Präsident des Bereichs Zentraleuropa von IQVIA beim virtuellen Friday Talk des berufsbegleitenden Studienganges Master of Pharmaceutical Business Administration. Er sprach über das Thema “Emerging from the Pandemic: Priorities for Pharma in the New Normal”. 

Gewinnspannen unter Druck

Die durch die Pandemie ausgelöste Unsicherheit in Europa werde wohl bis 2023 anhalten, sagte Wartenberg, als er drei Szenarien der weiteren Pandemieentwicklung in der EU vorstellte, dessen positivstes prognostiziert, das Virus werde Ende 2021 endgültig eingedämmt worden sein und die Wirtschaft sich dementsprechend schnell und stark erholt haben, dessen negativstes jedoch unterstellt, das Virus werde auch Ende 2022 noch nicht besiegt worden, die Wirtschaft dauerhaft schwer getroffen und das Geschäftsmodell der Pharmaindustrie disruptiv beschädigt worden sein. Am wahrscheinlichsten werde jedoch das mittlere dieser Szenarien eintreten – mit periodischen Pandemieausbrüchen bis zur für eine Herdenimmunität ausreichenden Durchimpfung der Bevölkerung, einer wirtschaftlichen Erholung in branchenspezifisch verschiedenen Geschwindigkeiten und einem intensiven cross-sektoralen Wettbewerb um die Budgets mit entsprechend geringeren Gewinnspannen in einigen Segmenten des Pharmageschäfts. Vorhersehbar sei eine Stagnation des Arzneimittelmarktvolumens in der EU, der den Kampf um Marktanteile verschärfen werde. Dabei könnte es zu einer Verschiebung der Behandlungspriorität vom Onkologie- in den ZNS-Bereich kommen, auch deshalb, weil die Pandemie viele Menschen mental oder seelisch traumatisiert habe.

Telemedizin im Aufwind

Wie heftig die Dynamik des Gesundheitsmarktes durch COVID-19 durcheinandergerüttelt worden ist, verdeutlichte Wartenberg an einigen Beispielen. So habe sich 2020 etwa quer durch die Märkte die Zahl der Patientenbesuche in Arztpraxen halbiert und die Zahl der rezeptpflichtigen Verschreibungen um 70 Prozent abgenommen. Dem Pharma-Außendienst sei es wegen der pandemisch bedingten Kontaktbeschränkungen kaum noch möglich gewesen, persönlich in Praxen vorstellig zu werden, die Zahl der entsprechenden Besuche sei im Frühjahr 2020 um sage und schreibe 95 Prozent gefallen. Auf der anderen Seite hätten die Online-Kontakte des Marketings sich fast verfünffacht und telemedizinische Patientenkonsultationen von Ärzten gar um das 16-fache zugenommen, so dass inzwischen sechs bis acht Prozent aller Praxen Videosprechstunden anböten. Insgesamt, so Wartenberg, ließe die digitale Reife von Health Care Professionals dennoch nach wie vor zu wünschen übrig. „Die Patienten sind in dieser Hinsicht besser ausgerüstet als die Ärzte.“

DocMorris ante portas

Auch der Industrie stellte Wartenberg kein gutes Zeugnis aus. So sei es beispielsweise kaum zu glauben, dass sie in Deutschland in ihren Marketing-Aktivitäten die Ärzte noch immer zu zwei Dritteln auf dem herkömmlichen Postweg anspreche. Zwar zeigten einige Firmen partiell hervorragendes digitales Engagement, aber noch kein Unternehmen habe bisher eine ganzheitliche Digitalstrategie umgesetzt. „Die Herausforderung besteht darin, vom Fokus auf einzelne Online-Kanäle zu einem durchgängig orchestrierten Programm auf allen Kanälen zu kommen.“ Das sei nicht nur notwendig, um der durch die Pandemie schlagartig gestiegenen Digitalaffinität im B-2-B wie B-2-C-Bereich gerecht zu werden, sondern auch, um gegenüber neuen Playern im Gesundheitsmarkt nicht in Nachteil zu geraten. Wartenberg warnte die Industrie diesbezüglich vor DocMorris, dessen jüngst stattgefundener Erwerb einer Telemedizin-Firma einen disruptiven Effekt auf das Geschäftsmodell der Pharmabranche haben könnte. „Über die Vermittlung von Telesprechstunden und die Steuerung von E-Rezepten kontrolliert Doc Morris immer stärker die letzte Meile zum Patienten.“ Wenn die Pharmabranche nicht aufpasse, werde sie dadurch auf Dauer zum bloßen Zulieferer degradiert.

Eine große kostspielige Chance

Seit jeher sei die Branche als erste im Blick der Gesetzgeber, wenn es gelte, die Kosten im Gesundheitssystem zu senken, obwohl sie nur etwa 15 Prozent davon verursache, erinnerte Wartenberg, weil sich Arzneimittelausgaben für die Politik eben einfacher reduzieren ließen als etwa die Krankenhauskosten. An diese „low-hanging fruits“ der Gesundheitskosten werde sich die Politik nun wohl wieder heranmachen, nachdem die Pandemie die nicht COVID-19-bedingten Patientenzahlen der Krankenhäuser dramatisch verringert und diese damit aus dem finanziellen Gleichgewicht gebracht habe. Verschärft werden könnten die monetären Engpässe durch Einbußen auf der Einnahmeseite, die aus pandemiebedingt weit verzögerten Ausbietungen neuer Medikamente resultierten. Auf der Kostenseite wiederum müssten die Firmen erhebliche Investments einkalkulieren, um ihre Lieferketten resilient zu machen und ihre Wirkstoffproduktion zurück nach Europa zu holen. Auch habe die Pandemie eindrucksvoll den seit vielen Jahren zunehmenden Trend bestätigt, dass Arzneimittelinnovation ihren Ursprung immer seltener In-house nehme, sondern von Biotechunternehmen eingekauft werden müsse. Noch mehr werde die Kostenschraube durch einen teuren Anspruch angezogen, in dem letztendlich freilich die große Chance für die Pharmaindustrie liege. Der gesellschaftlich an die Industrie herangetragene Anspruch nämlich, proaktiv zur post-pandemischen Erholung der Gesundheitssysteme beizutragen, und die außerordentlich positive Rolle, die sie bei deren Bewältigung gespielt habe, zu verstetigen. Die Patienten durch das Angebot immer besserer Support-Programme wirklich in den Mittelpunkt des eigenen Handelns zu rücken, die indikationsbezogenen Prioritäten der eigenen Forschung und Entwicklung auf den Prüfstand zu stellen und die Effektivität gesundheitspolitischen Handelns im Zusammenspiel mit allen Stakeholdern zu optimieren, seien besonders wichtige Aspekte der Erfüllung dieses Anspruchs.

Eine Rückkehr zum „Business as usual“ könne es also nach der Erfahrung der Pandemie nicht geben, bilanzierte Wartenberg.  Vielmehr müsse es einen Post-Covid-19 „New Deal“ geben, spielte er abschließend auf Roosevelts Plan zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise von 1929ff. an. In diesem „New Deal“ sollte die Industrie sich unter dem obersten Gebot der Unterstützung der Gesundheitssysteme auf drei weitere Imperative verpflichten: Bewerte Deine Prä-Pandemie-Planung neu! Baue Deine Fähigkeiten patientenzentriert aus! Beschleunige die digitale Transformation!

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