Ein Antibiotikum sollte mehr kosten als eine Flasche Sprudel

Wer die Wirkstoffproduktion nach Europa zurückholen will,

muss bereit sein, an der Kostenschraube zu drehen

„Lieferengpässe sind ein Problem, das uns seit vielen Jahren betrifft, unter dem Zeichen der Corona-Pandemie aber zugespitzt hat“, sagte Prof. Dr. Karl Broich, der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), in seiner Key Note, mit der er bei der Digital Week des House of Pharma & Healthcare die virtuelle Podiumsdiskussion zum Thema „Ist die Arzneimittelversorgung in einer globalisierten Welt noch sicher?“ einleitete. Für 317 Arzneimittel waren am Tag seines Vortrages Lieferengpässe gemeldet. Betroffen waren hauptsächlich Herz-Kreislauf-Präparate, Anti-Infektiva und Krebsmedikamente, wobei es sich meist um Generika handelte. „Nicht jeder Lieferengpass ist ein Versorgungsengpass“, sagte Broich. „Trotzdem ist jede Umstellung eines gewohnten Arzneimittels für die Patienten eine große Verunsicherung und die Apotheker müssen viel Zeit damit verbringen, Alternativen zu finden.“ Für das BfArM, das für die Sicherstellung einer adäquaten Versorgung verantwortlich ist, sei es von vordringlicher Wichtigkeit, frühzeitig von einem bevorstehenden Lieferengpass zu erfahren, um einen Versorgungsengpass zu verhindern. „Dank neuer gesetzlicher Regelungen haben wir in Zukunft stärkere Möglichkeiten, steuernd einzugreifen.“

Jour Fixe zum gesetzlich fixierten Beirat aufgewertet

Mit dieser Aussage bezog sich Broich auf das Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung (GSAV) und das Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FKG), in denen der Gesetzgeber auf die Erfahrungen der letzten Jahre reagiert habe, insbesondere auf die gefährlichen Verknappungen des Zytostatikums Melphalan und des Blutdrucksenkers Valsartan. So verpflichte das GSAV Pharmaunternehmen zur öffentlichen Darlegung von Informationen über die Wirkstoffhersteller ihrer Fertigarzneimittel und ermächtige das BfArM im Krisenfall zur Koordination zwischen Bundes- und Landesbehörden. Mit dem GKV-FKG sei eine Meldepflicht eingeführt worden, wonach Pharmaunternehmer und Arzneimittelgroßhändler Informationen zu verfügbaren Lagerbeständen, Produktionsziffern und Absatzmengen versorgungsrelevanter Arzneimittel bereitstellen müssten, um eine bessere und schnellere Einschätzung der Versorgungslage zu ermöglichen. Auch könne das BfArM neuerdings anordnen, dass versorgungsrelevante Arzneimittel für einen längeren Zeitraum im Lager bevorratet werden. In Ausnahmefällen dürften auch Arzneimittel, die in einer anderen Sprache gekennzeichnet sind, in Deutschland verabreicht werden. Zudem gewähre das Gesetz mehr Flexibilität, wenn keine Rabattarzneimittel zur Verfügung stünden. Von herausragender Bedeutung für künftiges Krisenmanagement ist es Broich zufolge, dass der Jour Fixe Liefer- und Versorgungsengpässe, der 2016 als Folge des Pharmadialogs der Bundesregierung eingeführt worden war, seit Juli 2020 in einen gesetzlich fixierten Beirat beim BfArM nach § 52b Arzneimittelgesetz umgewandelt worden ist.

Monopolisierung ist das Hauptproblem 

An zwei aktuellen Beispielen veranschaulichte Broich, dass Lieferengpässe keineswegs allein durch die Abhängigkeit heimischer Hersteller von fernöstlichen Wirkstoffproduzenten entstünden. „Das Problem ist nicht primär der Ort der Produktion, sondern deren Monopolisierung“, sagte Broich. So sei der Lieferengpass für das Zytostatikum Epirubicin durch den Krieg in der Ukraine verursacht worden. Dem dort residierenden, den Weltmarkt beherrschenden Wirkstoffproduzenten sei ein Exportverbot auferlegt worden. Als Alternative habe das BfArM gemeinsam mit den Fachgesellschaften das allerdings nebenwirkungsstärkere Doxorubicin empfehlen können. Das für Kurznarkosen häufig verwendete Präparat Propofol wiederum sei in diesem Frühjahr dadurch plötzlich knapp geworden, dass es zum überwiegenden Teil in Norditalien hergestellt wird, der von der Corona-Pandemie initial besonders stark betroffenen Region. Diesem Engpass habe das BfArM kurzfristig durch eine Änderung der Qualifikationsanforderungen begegnen können. Es erlaubte die Abfüllung von Propofol in 100 ml-Durchstechflaschen und ließ deren Gebrauch auf Intensivstationen ausnahmsweise für zwei Personen zu.

400 Ausfälle pro Jahr in der Krankenhausapotheke

Tatsächlich gelinge es immer wieder Lösungen zu finden, konzedierte Prof. Dr. Martin Hug, Direktor der Apotheke des Universitätsklinikums Freiburg, in der anschließenden Diskussion, die von Petra Bollmann-Berg vom Hessischen Rundfunk moderiert wurde. Jedoch seien diese Lösungen oft aufwändig und kostspielig. Insgesamt habe sich die Problematik in den letzten Jahren deutlich verschärft. „2013 hatten wir bei uns im Haus noch 100 Ausfälle, 2020 werden es hochgerechnet fast 400 sein. Die meisten dieser Ausfälle hatten mit der Pandemie nichts zu tun. Ich weiß nicht, wo das enden wird.“ Mit großer Sorge beobachte er, so Hug, die häufigen Ausfälle im Bereich von Antidepressiva und anderen ZNS-Medikamenten. „Bei Anti-Epileptika können wir kaum einen Wirkstoffaustausch durchführen, denn viele dieser Medikamente stehen auf der Aut-idem-Liste, weil ihre Pharmakokinetik so verschieden ist.“ Nicht nur für Generika, sondern auch für sehr teure patentgeschützte Arzneimittel gebe es Lieferengpässe. „Darüber wundere ich mich immer wieder, denn ein Pharmaunternehmen muss doch ein Interesse haben, seine Waren zu verkaufen.“

Wie flexibel sind die Regulatoren?

Sein Unternehmen habe während der Coronakrise so viele Medikamente hergestellt wie nie zuvor und das Produktionsvolumen um mehr als zehn Prozent erhöht, bestätigte Eelco Oeckers, Executive Vice President Germany bei der Stada Arzneimittel AG, auf Nachfrage der Moderatorin. Aber auch Stada habe Wirkstoffausfälle zwischen fünf und zehn Prozent zu verkraften. Die europäische Versorgungskrise habe viele Treiber. Zu diesen zählten auch die hohen regulatorischen Anforderungen in Deutschland und Europa. „Wenn man zum Beispiel eine zweite Wirkstoffproduktion eröffnen will, dauert das Genehmigungsverfahren dafür zwei Jahre, in China oder den USA geht das innerhalb einer Woche.“ Dem widersprach Broich vehement. „Wir sind als Regulatoren sehr flexibel.“ Im Falle von Melphalan etwa habe das BfArM aktiv nach einem alternativen Produzenten gesucht. „Aber wir können und wollen nicht alle Qualitätsansprüche aufgeben, auch die amerikanische Zulassungsbehörde tut das nicht.“

Kritik an Vergabepraxis der Kassen

Eelco Oeckers verwies auf den Zusammenhang zwischen Rabattverträgen und Lieferengpässen, als ersagte: „Bei Kassenausschreibungen darf es nicht nur einen Gewinner geben, schon gar nicht einen, der seinen Wirkstoff aus einer einzigen Produktionsstätte bezieht.“ Besser wäre es, drei Unternehmen parallel den Zuschlag zu geben. Dieser Kritik an der Vergabepraxis bei Rabattverträgen und deren Konsequenzen schloss sich Martin Hug an. „Arzneimittel sind oft viel zu billig“, sagte er. „Es kann nicht sein, dass manche Antibiotika für weniger Geld als eine Flasche Mineralwasser gehandelt werden.“ Der Preisverfall habe den Wegzug der Wirkstoffproduktion beschleunigt, bestätigte Oeckers. Als Beispiel nannte er die viele Jahrzehnte dauernde Produktion von Grippeimpfstoffen in Marburg, die es heute dort nicht mehr gebe: „Geschlossen wegen Preisverfall!“ Stada produziere an seinen drei deutschen Produktionsstandorten zwar immer noch 40 bis 50 Prozent seiner Generika. „Vor 20 Jahren waren es aber noch 100 Prozent – und es wird weniger. Das ist keine Strategie. Wir werden dazu gezwungen, wenn es anderswo so viel billiger ist.“

Ausschreibungen mit Premiumpreis erforderlich

Die wichtigste Stellschraube für eine Rückholung der Wirkstoffproduktion sind also die Kosten. Darin waren sich die drei Diskutanten einig. „Wenn wir die Wirkstoffproduktion in Deutschland haben wollen, dann muss das bei den Ausschreibungen ein Kriterium sein und in Deutschland und Europa ein Premiumpreis bezahlt werden“, sagte Oeckers. Jedem sei klar, unterstrich Broich, dass die Rückverlagerung der Produktion mit einem höheren Preis einhergehen werde. „Wer die Kosten dafür übernimmt, können wir als BfArM nicht beeinflussen.“ Er sei aber zuversichtlich, dass Krankenkassen, Unternehmen und alle anderen Stakeholder des Gesundheitswesens kreative Lösungen fänden. Der politische Wille dazu sei außerordentlich stark. Nicht umsonst sei es ein gesundheitspolitisches Hauptthema im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft, die Wirkstoffproduktion nach Europa zurückzuholen.

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